Leichtathletik:An der Schwelle

Lesezeit: 3 min

Wieder unterwegs: 100-Meter-Rekordler Julian Reus hat den Wettkampfbetrieb für 2017 aufgenommen. (Foto: Sven Hoppe/dpa)

Vor einem Jahr rückte Julian Reus über 100 Meter nah an die zehn Sekunden heran, seitdem rätselt die Szene, ob er diese Marke als erster Deutscher unterbieten kann.

Von Joachim Mölter, München

In diesem Jahr hat der Sprinter Julian Reus ungewöhnlich spät ins Wettkampfgeschehen gefunden, wenn man mal von seinem Staffel-Einsatz über 4x100 Meter Ende April bei den sogenannten World Relays auf den Bahamas absieht. Sein Einzeldebüt hat der 29-Jährige erst am vorigen Sonntag absolviert, also schon weit im Juni; beim Sportfest in Regensburg rannte er die 200 Meter in 20,63 Sekunden. "Für mich ganz gut", fand der 100-Meter-Spezialist, "das war auch ein Lauf ein bisschen zum Durchblasen."

An diesem Freitag gibt Reus in Dessau seinen Saisoneinstand über 100 Meter, in der Leichtathletik-Szene ist man schon gespannt. Der Athlet vom TV Wattenscheid hat im Olympia-Sommer 2016 den deutschen Rekord auf 10,01 Sekunden gesteigert und damit angeklopft an der Tür, hinter dem der elitäre Kreis der Neunkommanochwas-Männer tagt. Nun will man natürlich wissen, ob er es auch über die Schwelle schafft, als erster Deutscher.

Dass Reus den internationalen Vergleich sucht, ist schon mal lobenswert

Die Voraussetzungen sind freilich nicht optimal. Wegen eines Feldwebel-Lehrgangs bei der Bundeswehr hat der Sportsoldat im Winter komplett auf Hallen-Wettkämpfe verzichtet. Und "wenn man aus einer Hallensaison kommt, hat man schon ein anderes Grundniveau, vor allem, was die Schnelligkeit angeht", erklärt Reus: "Das ist etwas, wo man sich jetzt über die Wettkämpfe reinfuchsen muss." Auf Dessau am Freitag folgt Stockholm am Sonntag, beim Diamond-League-Meeting tritt er erneut auf seiner Lieblingsstrecke an, zunächst erst einmal nur im Vorprogramm, im sogenannten Nationallauf. "Da kann man sich dann für den A-Lauf qualifizieren", erklärt Reus.

Das ist generell und seit Langem die Crux deutscher Sprinter: Sie sind nicht schnell genug, um bei internationalen Meetings ins Elite-Feld gebeten zu werden. "Bei acht Startplätzen, wie es meistens der Fall ist, ist's schon schwer reinzukommen", weiß Reus. Dass er den internationalen Vergleich zumindest sucht, ist allerdings lobenswert. Bislang ist es so, dass die Kurzstreckler des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV) meistens unter sich sind (so wie am Freitag in Dessau, wo Reus auf alle nationalen Rivalen trifft) und dann bei kontinentalen oder globalen Titelkämpfen nicht mithalten können, wenn neue Konkurrenz aus dem Ausland dazukommt. Es ist für Laien schwer verständlich: Aber man muss sich tatsächlich erst dran gewöhnen, dass sich Gegner nicht nach fünfzig, sechzig Metern abschütteln lassen. Die Erfahrung macht gerade auch das Talent Gina Lückenkemper von der LG Olympia Dortmund: Die 20-Jährige sauste Ende Mai in Zeulenroda gegen nationale Konkurrenz locker zu 11,04 Sekunden über 100 Meter und verkrampfte dann vorige Woche beim Diamond-League-Meeting in Rom angesichts widerstandsfähiger Gegnerinnen; ihre Zeit: 11,39. Allerdings ist Lückenkemper 200-Meter-Spezialistin und auf dieser Strecke im vorigen Jahr schon EM-Dritte und Olympia-Teilnehmerin gewesen; und zumindest hat sie bereits die 100-Meter-Norm des DLV für die WM in London (5. bis 13. August) mit ihren 11,04 bereits unterboten.

Dieser Norm läuft Julian Reus nun hinterher. Von seinen Männern fordert der DLV 10,12 Sekunden für die Entsendung nach London, was auch ein deutscher Rekordler nicht einfach aus den Beinen schüttelt. Nach Dessau und Stockholm hat Reus noch die Team-EM Ende Juni in Lille auf dem Programm sowie die deutschen Meisterschaften Anfang Juli in Erfurt. "Ein schöner Block mit fünf Wettkämpfen, das ist in der Summe ganz gut", findet er. Es offenbart freilich auch, wie wenig Gelegenheiten zur Qualifikation es mitunter gibt, und wie sehr die Hatz zur Normerfüllung die Athleten dann unter Druck setzt.

"Wir haben versucht, noch mal am Top-Speed zu arbeiten", sagt der Sprinter

Julian Reus weiß, dass das Vorhaben, die WM-Norm zu erfüllen, knapp kalkuliert ist in diesem Jahr. "Es war nicht anders möglich", sagt er über den zwangsläufig geänderten Formaufbau, "aber man braucht ja auch immer neue Herausforderungen." Mit seinem Trainer Gerhard Jäger hat er an neuen Stellschrauben gedreht während der Vorbereitung. "Wir haben versucht, noch mal am Top-Speed zu arbeiten", an der Spitzengeschwindigkeit also, "im Training ist das alles schon sehr, sehr gut. Aber das dauert natürlich, bis man es auch im Wettkampf hinbringt", erzählt Reus.

Dafür dienen die nächsten Rennen. Und zur Not gibt es ja auch immer noch die 4x100-Meter-Staffel, für die Reus als gesetzt gelten darf, wenn er sich nicht verletzt. Da gab es am vorigen Wochenende einen weiteren Testlauf, das DLV-Quartett mit Reus, Robert Hering, Roy Schmidt und Aleixo Platini Menga nutzte die Gelegenheit in Regensburg zu einer Steigerung auf 38,60 Sekunden, was eine halbe Sekunde besser war als auf den Bahamas. "Die Staffel ist immer wichtig", sagt Reus, und das ist nicht bloß so dahergesagt. Für deutsche Sprinter, selbst für einen Rekordler, ist sie die beste Gelegenheit, bei internationalen Meisterschaften dabei zu sein.

© SZ vom 16.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: