Joachim Deckarm wird 60:Mitleid ist das Letzte, was er will

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Alte Kameraden: Heiner Brand (links) und Joachim Deckarm (Mitte). (Foto: Günter Bratke/dpa)

Er war der beste Handballer der Welt - bis er mit dem Kopf auf den Betonboden einer ungarischen Halle knallte und 131 Tage im Koma lag. Seitdem führt Joachim Deckarm ein zweites Leben.

Von Jochen Arntz

Damals waren die Tage groß in der kleinen Stadt. Die Handballer, die aus ihr hinauszogen in das Land und in die Welt, sogar in die Gegend, die man damals noch Ostblock nannte, sie holten alles. Die deutschen Meisterschaften, die Europapokale, und sie waren dabei, als die Handball-Nationalmannschaft 1978 in Dänemark Weltmeister wurde. Gegen die Sowjetunion. Wahrscheinlich wurden die Deutschen sogar deshalb Weltmeister, weil die Spieler aus der kleinen Stadt dabei waren, aus Gummersbach. Sie hießen Heiner Brand, Claus Fey und Erhard Wunderlich. Und: Derjenige aus dem VfL Gummersbach, der im Finale die meisten Tore warf - er erzielte sechs der zwanzig Treffer beim 20:19 -, der hieß Joachim Deckarm.

Er trug die Nummer 11, er war der beste Handballer der Welt, so einfach war das. Er allein konnte die Tage groß machen. Nicht nur in Gummersbach. Er war anders als zum Beispiel die Profifußballer jener Zeit. Deckarm spielte nicht nur, er studierte auch noch: Mathematik und Sport. Er konnte reden, gut und schnell denken, er wollte Lehrer werden. Er wollte.

Doch dann wurden die Tage lang. Entsetzlich lang und grausam für alle, die für ihn hofften. Genau gesagt, waren es 131 Tage, die Joachim Deckarm im Koma lag - nach jenem Moment am 30. März 1979 als er in Ungarn, in Tatabanya, bei einem Europapokalspiel mit einem Gegenspieler zusammenstieß und schon bewusstlos mit dem Kopf auf den Betonboden der Halle knallte. Schädelbruch, schwere Gehirnquetschungen. In der Halle in Ungarn gab es nicht einmal eine Trage, mit der man ihn wegbringen konnte. Die Spieler trugen ihn vom Feld.

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Als Spieler unumstritten der Beste, als Persönlichkeit nicht von allen geliebt. Erhard Wunderlich, der deutsche "Handballer des Jahrhunderts", ist im Alter von 55 Jahren seinem Krebsleiden erlegen. Die Reizfigur gewann mit seinem Verein VfL Gummersbach und der deutschen Auswahl nahezu alles - nach seiner Zeit als Aktiver tat er sich schwerer.

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Am 132. Tag erwachte er im Krankenhaus. Und er war wieder wie ein kleines Kind, konnte nicht laufen, kaum ein Wort sprechen. Alle, die irgendwie konnten, versuchten ihm zu helfen. Aber wie viele glaubten wirklich noch an ihn?

Seine Eltern holten ihn zurück aus Gummersbach in seine Geburtsstadt Saarbrücken. Zu Hause, über seinem Bett, hingen bald drei kleine Sätze: "Ich kann, ich will, ich muss."

Die Eltern und Werner Hürter, ein alter Trainer Deckarms, hatten ihm die Sätze mit auf den Weg gegeben, auf den Weg in ein zweites Leben: Ich kann, ich will, ich muss mein Schicksal meistern. Hürter kümmerte sich jahrelang um Deckarm. Es waren Jahre der kleinen Erfolge, der über- lebenswichtigen kleinen Erfolge.

Deckarm wurde nie wieder der "Jo", den die Gummersbacher kannten, aber er blieb auch nicht der hilflose Mensch, der er war, als er aus dem Koma erwachte. Er führt ein zweites Leben, er hat so vielen anderen gezeigt, dass ein Behinderter Würde und Persönlichkeit leben kann. Deckarm wohnt jetzt in einer Pflegeeinrichtung in Saarbrücken. "Mitleid ist das Letzte, was ich will", hat er einmal gesagt. Aber er weiß, was das ist. Lajos Panovics, der Mann, mit dem er damals zusammenstieß, spielte nie wieder Handball nach dem Tag in Tatabanya. Er litt jahrelang unter Depressionen. Deckarm hat sich mit ihm getroffen, hat versucht, ihm die Schuldgefühle zu nehmen. Es war ja nicht Panovics' Schuld, nicht mal ein Foul, es war ein Unfall, der Deckarm in sein zweites Leben schleuderte.

In ein Leben, in dem die Tage zäh sein können, in dem er aber noch immer die Tage groß machen kann. Beim Eröffnungsspiel der Handball-WM 2007 saß Deckarm in Berlin auf der Ehrentribüne. Er hatte Geburtstag, er wurde eingehüllt in einen langen Applaus. Zwei Wochen später waren die Deutschen wieder Weltmeister.

Am Sonntag wird Joachim Deckarm 60. Die Weltmeister von '78 werden bei ihm sein. Bei ihm, der einst mit seinem rechten Arm die Sowjetunion bezwang. Und schließlich das Schicksal.

© SZ vom 18.01.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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