Handball:Zwischen Erstklässlern und Weltmeisterschaft

Lesezeit: 3 min

Tagsüber Arbeit, abends Sport: Nationalspielerin Kerstin Wohlbold bewältigt eine duale Karriere.

Von Ulrich Hartmann, Erfurt/Leipzig

Die Erstklässler der Astrid-Lindgren-Grundschule in Erfurt müssen fünf Wochen auf ihre Klassenlehrerin verzichten: Frau Wohlbold versucht, bei der Handball-Weltmeisterschaft eine Medaille zu gewinnen, los geht es an diesem Freitag in Leipzig mit dem Eröffnungsspiel gegen Kamerun (19 Uhr, Sport 1). Wenn sie kurz vor Weihnachten ins Klassenzimmer zurückkehrt, wird sie keine Nationalspielerin mehr sein. Die Kapitänin des Bundesliga-Tabellenführers Thüringer HC beendet mit der Heim-WM ihre Karriere im Nationalteam. Viel mehr Freizeit wird ihr das künftig nicht bescheren. Die duale Karriere der Handballerin Kerstin Wohlbold ist und bleibt eine Strapaze.

Sie sieht so aus: 6 Uhr aufstehen, 6.50 Uhr aus dem Haus, 7.45 Unterrichtsbeginn, Schule bis zum Mittag, dann individuelles Krafttraining, anschließend einkaufen, kochen und essen, Unterricht vorbereiten, am Abend Training, vielleicht noch Videoanalyse bis halb neun, danach zügig heim. Die 33-Jährige braucht ihren Schlaf. "Am besten neun Stunden", sagt sie. So viel Erholung ist erforderlich, sonst schafft sie ihr Pensum weder in der Schule noch in der Sporthalle. Wohlbold spielt mit dem Thüringer HC Bundesliga und Champions League. Montagmorgens hat sie im Stuhlkreis spannende Geschichten zu erzählen.

Alles hat zwei Seiten: Kerstin Wohlbold steht mit ihrer dualen Karriere als Lehrerin und Sportlerin für das Gros der WM-Handballerinnen. (Foto: Monika Skolimowska/dpa)

Duale Karriere - das klingt nobel. Dabei ist jeder Tag eine Plackerei. Leistungssport und Beruf parallel, das sind die wahren Helden-Geschichten des Sports. Die kriegt bloß kaum jemand mit. Wenn die Handballerinnen bei der WM im Spartensender Sport1 zu sehen sind und vom Halbfinale an womöglich gar öffentlich-rechtlich, dann ist das etwas Besonderes für sie.

Die gebürtige Schwäbin Wohlbold spielt seit siebeneinhalb Jahren Handball in Erfurt und ist seit viereinhalb Jahren Lehrerin an der Grundschule. Für Maßnahmen der Nationalmannschaft wird sie an der Schule freigestellt, ansonsten gilt: Beruf geht vor. "Wenn in der Schule Elternabend ist, kann ich den Eltern nicht sagen: Ich muss trainieren", sagt sie. Trainiert wird in Erfurt immer am Abend, weil fast alle Handballerinnen tagsüber etwas Anderes zu tun haben. Zum vormittägigen Krafttraining dienstags und donnerstags kann Wohlbold nicht kommen, das holt sie individuell nach. Sie kocht jeden Tag selbst, weil sie auf ihre Ernährung achtet. Mit Ausnahmen, natürlich: "Ich esse eigentlich jeden Tag Süßigkeiten", gesteht sie. Doch auch da ist sie diszipliniert: "Mir reichen auch mal fünf Gummibärchen."

Wohlbold wurde als Handballerin achtmal Meister und zweimal Pokalsieger, aber in der Nationalmannschaft ist nie etwas zusammengegangen. Bei jedem Turnier versagten dem Team die Nerven, ob der Trainer nun Heine Jensen oder Jakob Vestergaard hieß. Von Vestergaard wurde Wohlbold sogar aussortiert. Er sprach ihr am Vormittag auf die Mobilbox, obwohl er wusste, dass sie da unterrichtet. Da war Wohlbold sauer. Damals schien ihre Karriere im Nationalteam zu Ende zu sein - ohne zählbaren Erfolg. Dann verpflichtete der Deutsche Handball-Bund (DHB) im April 2016 Michael Biegler. Zwischen dem kauzig wirkenden Trainer, der nie zuvor Frauen trainiert hatte, und den Nationalspielerinnen war es Liebe auf den ersten Blick.

Nach dem Eklat mit Vestergaard war das vor allem für die zentrale Rückraumspielerin Wohlbold elementar. Erst hat Biegler sie überredet, bis zur WM weiterzumachen, dann hat sie gemerkt, das nicht nur das Ziel Spaß macht, sondern sogar der Weg dorthin. "Anfangs hat man ihm angemerkt, dass er vorher nur Männermannschaften trainiert hat", sagt sie lächelnd, "aber er ist schon auch ein bisschen ein Frauenversteher." Diese Erkenntnis war selbst für Biegler neu. "Wir Frauen legen jedes Wort vom Trainer auf die Goldwaage, das hat ihn immer wieder überrascht", sagt Wohlbold. Jetzt ist Biegler der beliebteste Bundestrainer seit Armin Emrich, mit dem die deutsche Mannschaft 2007 bei der WM in Frankreich Bronze gewann. "Michael Biegler ist sehr überzeugend in dem, was er macht und wie er es macht, und genau das hat diese Mannschaft gebraucht: einen Trainer, der einen klaren Plan vermittelt."

Auch die Grundschullehrerin in Kerstin Wohlbold findet den Handballtrainer überzeugend. "In einer Ansprache kann er unmissverständlich deutlich machen, dass es so nicht weitergeht, aber er beendet sie immer mit einem positiven Aspekt - daran habe ich gemerkt, dass er pädagogisch wertvoll agiert", sagt sie. Und so kehrt die Lehrerin ja vielleicht nicht nur mit einer WM-Medaille ins Klassenzimmer zurück - sondern auch mit wertvollen Erfahrungen für ihre weitere Arbeit.

© SZ vom 01.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: