Handball:"Nur noch ein Überwinden von Schmerzen"

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Die sensible Stelle so vieler Handballer: das Knie. Kiels Kreisläufer Toft Hansen verletzte sich am Sonntag in der Bundesliga. (Foto: Eibner/imago)

Kiel klagt über zu hohe Belastungen - und über den nächsten Kreuzband-Verletzten.

Von Ulrich Hartmann, Köln

Der Handballmanager Thorsten Storm stand am Sonntagabend im Kellergang der Kölner Arena. Im kalten Licht der Neonröhren wirkte sein Gesicht blass, der Blick müde. Storm wurde gebeten, ein wechselhaftes Halbjahr des THW Kiel zu bilanzieren. "Wechselhaft ist gut", sagte er und stieß ein spöttisches Lachen aus. "Das hat doch mit Handball nicht mehr viel zu tun", sagte er, als hinter ihm gerade der Rückraumspieler Domagoj Duvnjak vorbeiging. "Domo", hielt Storm ihn auf, "du weißt so was: Wie viele Spiele haben wir auf dem Buckel jetzt?" Duvnjak dachte kurz nach und sagte: "35". Storm nickte: "Was soll das noch? Die können doch alle nicht mehr. Das sieht man bei den Rhein-Neckar Löwen, das sieht man bei Flensburg und das sieht man bei uns: Das ist nur noch ein Überwinden von Schmerzen, das macht so keinen Sinn mehr."

In der Arena stand der Nationalspieler Steffen Weinhold noch am Rande des Spielfelds. Auch er hat alle 35 Pflichtspiele binnen vier Monaten absolviert. Im 35. Spiel hatten sich seine Kieler soeben zu einem 31:28-Sieg gegen den Vorletzten Bergischer HC gemüht. Weinhold sagte in ein Radiomikrofon: "Die Hinrunde ist überstanden, jetzt können wir erst mal ein bisschen regenerieren." Der Radiomann entgegnete: "Aber Sie müssen doch gleich weiter zur Nationalmannschaft, denn im Januar ist Europameisterschaft." Weinhold lächelte. "Stimmt, aber wir haben jetzt zumindest zehn Tage kein Spiel, das ist für den Kopf schon mal ganz gut - und außerdem haben wir Silvester und Neujahr zwei Tage frei."

13 380 Zuschauer verfolgen den THW-Sieg gegen den Bergischen HC - Saisonrekord

Der Turnverein Hassee-Winterbek aus Kiel, der allein in den vergangenen 21 Jahren 17 Mal deutscher Meister wurde und damit beim Handball erfolgreicher ist als der FC Bayern beim Fußball, erlebt eine aufwühlende Saison. Er war mit einem überschaubaren Kader gestartet, hatte von den ersten neun Bundesligaspielen drei verloren - sowie in Außenspieler Dominik Klein und Kreisläufer Patrick Wiencek zwei wichtige Spieler wegen Kreuzbandrissen. In der Champions League verlor der THW von zehn Spielen vier, aus dem DHB-Pokal schied er aus. Am Sonntag, vor der Saison-Rekordkulisse von 13 380 Zuschauern anlässlich eines als Weihnachts-Event aufgezogenen Spiels, fehlten zudem die verletzten Joan Canellas und Rune Dahmke. Dann passierte noch ein schlimmer Unfall: Kreisläufer René Toft Hansen zog sich in der zweiten Halbzeit einen Kreuzbandriss im Knie zu. Der Däne wird acht bis neun Monate ausfallen. "Wenn man in einer Halbserie den Innenblock und beide Kreisläufer verliert, dann ist das schon krass", sagte der Trainer Alfred Gislason. Der Isländer wünscht sich, die Liga möge 16 Spieler (bislang 14) pro Spiel gestatten, allerdings findet er mit diesem auf Entlastung seines strapazierten Personals abzielenden Vorschlag bislang keine breite Zustimmung. "Aber wie sollen wir mit einer halbkaputten Mannschaft Deutschland repräsentieren?", sagt Gislason mit Blick auf die Champions League.

Kiel war schwer in die Saison gekommen, hatte im Sommer in Rasmus Lauge, Aron Palmársson und Filip Jicha drei wichtige Spieler hergegeben und auch deshalb in allen Wettbewerben schmerzliche Niederlagen einstecken müssen. "Wir sind mit einem kleineren Kader in die Saison gestartet, jetzt kommen noch Ausfälle dazu und der Spielplan ist auch noch voller geworden - das macht es schwierig", sagt Weinhold. Der Rückraumspieler erkannte im Verlauf der Hinrunde trotzdem eine positive Entwicklung. "Es wäre schön gewesen, wenn wir den einen oder anderen Punkt mehr gewonnen hätten, aber wir sind in Lauerstellung für die Rückrunde."

Mit zuletzt elf Bundesligasiegen in Serie, darunter jüngst das 31:20 gegen die Rhein-Neckar Löwen, haben sich die Kieler trotz schwindender Kräfte in einen Titel-Dreikampf mit den Löwen und der SG Flensburg eingeschaltet. Sie überwintern auf Platz zwei. Wie ihnen das gelungen ist? "Durch unseren großen Willen", sagt der Manager Storm. "Ich sehe die positive Entwicklung einer neuen Mannschaft, die durch den gemeinsamen Kampf langsam zu einer Einheit wird." Storm zieht nun also diese Halbjahres-Bilanz: "Trotz eines großen Umbruchs sind wir im Meisterrennen dabei und werden in der Champions League das Achtelfinale erreichen."

Auch Trainer Gislason findet die Bilanz der Hinrunde "gar nicht so schlecht". Die nur sechs Minuspunkte in der Bundesliga nennt er sogar "eine großartige Leistung" unter Berücksichtigung "der Umstände: viele junge Spieler, ein kleinerer Kader und die Verletzungen".

Trotz der Misere fordert Trainer Gislason, seit 2008 in Kiel, jetzt keine Verstärkungen

Personelle Veränderungen, sagt Storm, strebe er im Winter keine an. Für den kommenden Sommer hat man soeben den Wechsel von Nationaltorwart Andreas Wolff von der HSG Wetzlar beschließen können. Aber von kurzfristigen Transfers hält auch Gislason wenig: "Wir müssten viel trainieren, um andere Leute auf den Problempositionen einzusetzen. Um diese Zeit ist es nicht einfach, Leute zu bekommen, die uns helfen." Und auch Gislason, seit 2008 Trainer in Kiel, weiß: Gerade in solch kritischen Phasen ist der THW häufig doch sehr erfolgreich gewesen.

© SZ vom 29.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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