Handball:Fliegender Wechsel

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Wird abgeschafft: Das farbenfrohe Leibchen, das Martin Strobel als Torwart-Ersatz auf dem Feld trägt, ist nun überflüssig. (Foto: Heuberger/Imago)

Der Weltverband führt neue Regeln ein, eine gilt als revolutionär: Die taktische Möglichkeit, mit einem siebten Feldspieler statt eines Torwarts zu agieren, beschäftigt die Trainer.

Von Ralf Tögel, München

Es wird viel geredet, in diesen Tagen vor den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro. Über schlechte Quartiere, korrupte Funktionäre, gedopte Athleten - das Wesentliche tritt ob all dieser unschönen Geschichten fast in den Hintergrund. Nicht bei Bob Hanning, bei ihm steht der Sport im Fokus. Hanning spricht gerne und ausführlich über Handball, er ist ein so wortgewandter wie kommunikativer Mensch und in seiner Funktion als Vizepräsident Leistungssport des Deutschen Handballbundes (DHB) ein gefragter Gesprächspartner. Hanning ist zuständig für die Nationalmannschaft, und die wird als Medaillenanwärter gehandelt.

Wenn er eine wichtige Nachricht senden will, verpackt er sie gerne in kleine Geschichten, so wie diese: Er sei mit Steffen Weinhold zusammengesessen, der Deutschland bekanntlich als Kapitän zum Europameistertitel geführt hat. Als Hanning sinnierte, dass man nach überstandenem Viertelfinale nur noch 120 Minuten Spielzeit zu überstehen habe, um "etwas Großes zu gewinnen", sah er mit bloßem Auge, wie Weinhold am ganzen Arm eine Gänsehaut bekommen habe. Die Nachricht? Selbst ein so abgezockter Profi wie Weinhold ist heiß wie selten.

Im Grunde bedeutet die Regel, dass der Angreifer immer eine Überzahlsituation herstellen kann

Im Vergleich zu Hanning redet Dagur Sigurdsson nicht besonders viel. Manchmal wirkt er, als ob ihm das ganze Gerede vor dem olympischen Turnier, das für die deutsche Mannschaft mit der Partie gegen Schweden am Sonntag (16.30 Uhr/MESZ) beginnt, ein bisschen auf die Nerven geht. Dann werden die Antworten knapper. Vielleicht liegt es auch daran, dass er Isländer ist, die als schweigsame Nordmänner gelten. Besonders wortkarg wird Sigurdsson, wenn es um die fünf neuen Regeln geht, die der Weltverband IHF kurzfristig zu Olympia eingeführt hat. Manches, wie die blaue Karte, die nach einem groben Foul einen Zusatzbericht optisch ankündigt, darf man als Formalie abtun. Manches wird marginal bleiben, etwa, dass Zeitverzögerungen durch passives Spiel oder vorgetäuschte Verletzungen entgegengewirkt wird. Oder dass ein grobes Foul in den letzten 30 Spielsekunden immer einen Siebenmeter nach sich zieht. So kann eine knappe Führung nicht mehr auf Kosten einer roten Karte über die Zeit gerettet werden.

Hanning sieht das ähnlich, er findet einige Änderungen überflüssig, andere "persönlich gut", wie die Regel, dass ein Spieler nach einer Verletzungspause drei Angriffe aussetzen muss. Und dann ist da noch die Regel mit dem siebten Feldspieler. Per fliegendem Wechsel kann für den Torhüter nun ein Feldspieler aufs Feld geschickt werden, ohne dass dieser wie bisher mit einem farbigen Leibchen gekennzeichnet werden muss. Das heißt aber auch: Im Notfall kann jeder Feldspieler für den Torhüter wieder runter. Hanning sagt: "Diese Regel wird die Sportart verändern." Im Klartext bedeutet das, dass die angreifende Mannschaft immer eine Überzahlsituation herstellen kann, aber dann halt ohne Torhüter auskommen muss. "Man kann die neuen Regeln auf diese Änderung herunterbrechen", findet Hanning. Seit dem 1. Juli sind sie in Kraft, das Handballturnier von Rio gilt als erster, viel beachteter Härtetest.

Dass diese neuen Regeln schon in Rio eine Rolle spielen werden, darf man als sicher annehmen. Auch wenn die Trainer sich zu dem Thema noch bedeckt halten. Sigurdsson sagt, er habe viel nachgedacht, sogar eine Art Seminar mit einem Pool an Kollegen aus der Bundesliga abgehalten, stundenlang wurde diskutiert, das Ergebnis: "Keiner weiß, was passiert." Er habe sich mit seinen Co-Trainern Alexander Haase und Axel Kromer "darüber einen großen Kopf gemacht", sagt er, "das können sie mir glauben", aber: "Öffentlich werde ich das nicht diskutieren."

Die Spieler bewerten die Änderungen unterschiedlich. Martin Strobel, dem als Spielgestalter der Nationalmannschaft eine wichtige Rolle zukommt, glaubt, "dass es schon einen gewissen Einfluss nehmen kann". Der 30 Jahre alte Rückraumspieler aus Balingen findet aber auch, "dass ein bisschen viel daraus gemacht wird", besonders wenn er an den Ligaalltag nach den Spielen denkt. Bei Olympia indes glaubt Strobel, dass gerade die afrikanischen und südamerikanischen Teams, die nicht selten einen unorthodoxen Stil pflegen, auf das neue Stilmittel zurückgreifen werden.

DHB-Vize Hanning ist daher froh, dass Deutschland gegen Schweden und Polen zu Turnierbeginn erst mal zwei europäische Gegner hat. Den Kreisspielern, so glaubt Strobel, werde eine größere Rolle als bisher zukommen, denn der siebte Feldspieler bedeute fast zwingend, dass ein zweiter Mann am Kreis agiert.

Die Neuerung betreffe vor allem die Kreisläufer und Außenspieler, glaubt Routinier Groetzki

Patrick Wiencek ist im deutschen Team auf dieser Position gesetzt, was er erwartet? "Viele Mannschaften werden in Rio so spielen." Dann verrät der 27-Jährige, dass der Bundestrainer sehr wohl mehrere Varianten habe trainieren lassen. Alles andere wäre auch überraschend, Sigurdsson gilt als Taktikfuchs, hat seine Gegner oft schon mit unerwarteten Kniffen übertölpelt. Auch Rechtsaußen Patrick Groetzki glaubt, dass es diese Regel ist, die das Spiel verändern kann: "Ich denke, wir Außen werden weniger eins gegen eins anlaufen, weil es zwei oder sogar drei Kreisläufer geben wird." Groetzki ist ebenfalls 27 Jahre alt, womit er in diesem jungen deutschen Kader schon ein Routinier ist. Er ist sicher, dass "alle Mannschaften diese Regel nutzen werden".

Sigurdsson hat seine Spieler jedenfalls intensiv darauf vorbereitet, zumindest im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten. "Das ist das größte Problem", sagt der Bundestrainer, "du hast nur eine begrenzte Anzahl an Trainingstagen." Zudem muss man diese Variante ja auch beim Verteidigen berücksichtigen. "Wir haben viel probiert, viel geübt, viel gesprochen", sagt Wiencek, "wenn Dagur taktische Dinge austüfteln kann, dann ist er in seiner Welt." Dem Trainer werde also in diesem Zusammenhang die entscheidende Rolle bei Olympia zufallen, glaubt Wiencek. Die Typen würden sich da sehr unterscheiden, "da muss man schon den richtigen dafür haben".

Dementsprechend werde sich das auch in der Bundesliga niederschlagen, glaubt Wiencek. Wie er die Situation bei seinem Heimatklub einschätze, dem Rekordmeister THW Kiel? Das werde man sehen, sagt Wiencek und grinst, "unser Trainer redet nicht so viel mit uns". Kein Wunder, der heißt Alfred Gislason und ist Isländer.

© SZ vom 05.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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