Handball:Aus dem Handgelenk geschüttelt

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Zerstörer des französischen Traums: Mikkel Hansen erzielte schon in der ersten Halbzeit des Finales sieben seiner insgesamt acht Tore. (Foto: Roberto Schmidt/AFP)

Geführt vom herausragenden Spielmacher Hansen verhindert Dänemark die Krönung der französischen Handballer.

Von Boris Herrmann

In der vielleicht bemerkenswertesten Szene des olympischen Handballfinales begegneten sich Nikola Karabatic und Henrik Toft Hansen in der Nähe des dänischen Kreises. Karabatic hatte offensichtlich vor, ein Tor zu erzielen. Da gab es zwei Minuten vor dem Ende der Spielzeit aus französischer Sicht auch dringenden Handlungsbedarf. Der Däne Toft Hansen aber nahm Karabatic einfach den Ball aus der Hand. Ohne zu fragen natürlich. Aber eben auch ohne Foul, ohne Körperkontakt, ohne jede Anstrengung. So wie man sich eine Rosine vom Törtchen stibitzt. Die ganze schreckliche Wahrheit ist: Nikola Karabatic, 32, zweifellos einer der Größten, den dieser Sport je gesehen hat, stand in diesem Moment wie ein Trottel da.

Etwa eine Stunde später, die Silbermedaille baumelte bereits um seinen Hals, sagte Karabatic selbstkritisch: "Nach der Szene war klar, dass es schwer wird heute." Tatsächlich war da sogar schon abzusehen, dass es nichts mehr werden wird. Jedenfalls nicht für Frankreich, für die Übermannschaft des zurückliegenden Jahrzehnts, von der nahezu jeder erwartet hatte, dass sie an diesem Tag ihren dritten Olympiasieg in Serie feiern würde. Ein goldenes Spätwerk einer goldenen Generation sollte das werden. Der deutsche Torhüter Andreas Wolff, im Halbfinalkrimi gegen Frankreich knapp gescheitert, schickte sogar vorzeitige Glückwünsche: "Wir gönnen den Franzosen noch mal diesen Olympiasieg und reden dann im nächsten Jahr bei der WM wieder ein Wörtchen mit", sagte Wolff im Anschluss an den Bronzegewinn der deutschen Handballer gegen Polen. Da hatte das Spiel um Gold noch gar nicht begonnen.

"Wenn der Mikkel einen Lauf hat, dann läuft es halt"

Scheinbar hat niemand mit diesen Dänen gerechnet. Am wenigsten offenbar die Franzosen, die auftraten, als ob sie eine Kleinigkeit zu erledigen hätten. Erstaunlich eigentlich. Das kleine Dänemark ist bekanntlich eine große Handballnation. Das Team, das in Rio antrat, war weder einen Tick zu alt (wie vielleicht die Franzosen), noch einen Tick zu jung (wie die Deutschen) - es spielt in dieser Form seit Jahren zusammen, besteht größtenteils aus gestandenen Bundesligaspielern und wird angeführt von Mikkel Hansen, dem aufregendsten Handballer der Gegenwart.

Hansen, 28, sieht aus wie eine Kreuzung aus Björn Borg und Axl Rose. Er ist 1,96 Meter groß, 98 Kilo schwer, Großverdiener bei Paris St. Germain, zweimaliger Welthandballer. Bloß wenn er spricht, wirkt er wie ein scheues Reh. Nach dem größten Sieg seiner Karriere sagte er mit seinem Zitterstimmchen: "Der Schlüssel war heute ein guter Start. Zuletzt haben uns die Franzosen immer von der ersten Minute an zerstört." Hansen ist viel zu bescheiden, um kund zu tun, was jeder sehen konnte: Diesmal zerstörte er die Franzosen. Casper Mortensen, der Linksaußen vom TSV Hannover-Burgdorf, drückte es so aus: "Wenn der Mikkel einen Lauf hat, dann läuft es halt."

Laufen ist gut. Die meiste Zeit geht oder steht dieser Mann, während er das dänische Spiel sortiert. Als wäre er gerade aus dem Bett geklingelt worden, latschte er am Sonntag immer wieder mit dem Ball durch die Halle. Dann aber schüttelte er urplötzlich eines seiner unberechenbaren Zuspiele aus dem Handgelenk. Oder er warf einfach ansatzlos aus zehn Metern ins Tor. Sieben Treffer gelangen ihm alleine in der ersten Hälfte. Phasenweise sah dieses Endspiel aus wie Hansen gegen Frankreich. Am Ende stand es 28:26 für den Mikkel.

Bis zum Finale von Rio hatten die Franzosen kein Endspiel verloren

Trotzdem wäre es zu einfach, das erste dänische Olympiagold nur mit den Eingebungen eines Solokünstlers zu erklären. Die Partie wurde auch von der besseren Deckung entschieden. Und vielleicht von einer Note französischer Hybris. Diese Generation aus fast schon mythischen Handballern um die Gebrüder Karabatic, Daniel Narcisse und den 39 Jahre alten Torhüter Thierry Omeyer umwehte ein Hauch von Unantastbarkeit. Sie haben jedenfalls noch nie ein großes Endspiel verloren - bis zum Olympiafinale von Rio.

Für dieses Turnier wurde eine neue Überzahlregel eingeführt, der Torwart kann kurzfristig durch einen siebten Feldspieler ersetzt werden, der nicht mehr mit einem Leibchen gekennzeichnet werden muss. Eine kleine Veränderung mit großen Auswirkungen. Die Regel ist unbeliebt, weil sie das Spiel nicht schöner, sondern plumper macht. Aber wenn es sie nun einmal gibt, dann nutzen wir sie auch - das dachten sich die Dänen. Die Franzosen haben die neue Spielform als einzige Spitzenmannschaft bei diesem Turnier nicht genutzt. "Vielleicht auch ein bisschen arrogant", fand René Toft Hansen, der Bruder des Balldiebes Henrik.

Kroatien hat mit Hilfe des Überzahlspiels sein Vorrundenspiel gegen Frankreich gewonnen. Die Deutschen hätten auf diese Weise fast noch das Halbfinale gedreht. Und die Dänen holten damit am Ende Gold. So sah es jedenfalls ihr aus Island stammender Trainer Gudmundur Gudmundsson. "Die neue Regel war ein ganz entscheidender Teil unserer Strategie", erzählte er. Hansen warf fast alle seine Tore ungedeckt, weil die Dänen einen Mann mehr auf dem Parkett hatten.

Für die hochbegabten Bronzemedaillengewinner aus Deutschland muss dieser Anblick schwer zu ertragen gewesen sein. Noch einmal zeigte sich, was möglich gewesen wäre im Halbfinale gegen Frankreich. Andererseits können die jungen Europameister sorgenfrei in die Zukunft blicken. Der DHB-Leistungssportdirektor Bob Hanning hat den Olympiasieg 2020 in Tokio zum großen Ziel ausgegeben. Mit dem Lächeln eines Innovationskünstlers, der sein Werk bestaunt, sagte er in Rio: "Andere Mannschaften werden große Spieler verlieren. Wir werden welche dazubekommen."

Wenn man Nikola Karabatic an diesem Abend fragte, wie lange es diese große französische Mannschaft noch geben wird, dann sagte er: "Keine Ahnung, bis zur WM auf jeden Fall." Die nächste Weltmeisterschaft beginnt schon im Januar. In Frankreich. Spätestens danach steht dort jener Generationswechsel an, den die Deutschen bereits hinter sich haben. Wie sagte der Torhüter Andreas Wolff noch gleich? "Dort wollen wir ein Wörtchen mitreden." Die Gefahr, dass er dabei wieder die Dänen vergisst, dürfte sich fürs Erste erledigt haben.

© SZ vom 23.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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