Frauenfußball-WM:117 Torschüsse

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Bei der WM 2011 war Stürmerin Anja Mittag aus dem Kader gefallen. In Kanada ist sie nun Teil einer starken Offensive. Während Brasilien früh scheitert, besiegen die Deutschen Schweden im Achtelfinale 4:1.

Von Kathrin Steinbichler, Ottawa

Manchmal braucht es Jahre, um eine Antwort zu finden. Manchmal braucht es aber auch einfach nur einen Moment, der so schlicht ist und so eindeutig, dass für Zweifel kein Platz mehr ist. Und Anja Mittag weiß inzwischen, wie sie sich dann zu verhalten hat.

"Früher", sagt die Nationalstürmerin, "habe ich mir oft ganz schön einen Kopf gemacht." Über das Leben. Über ihr Leben. Über das Toreschießen, für das sie bezahlt wird. Gedanken über das Leben macht sich die 30-Jährige aus dem früheren Karl-Marx-Stadt auch heute noch, aber die Zweifel sind ausgeräumt. Und dass das so ist, hat bei Anja Mittag viel mit Schweden zu tun, wo sie die vergangenen vier Jahre gelebt, gespielt und zu sich gefunden hat. Mit diesem Schweden also, dessen Spielerinnen jetzt in den Katakomben des Lansdowne-Stadion mit rötlich verweinten Augen nur wenige Meter neben ihr standen.

Direkt nach Abpfiff dieses WM-Achtelfinales hatte Mittag noch versucht, der einen oder anderen Skandinavierin Trost zuzusprechen. Vor allem bei ihrer ehemaligen Klubkollegin Therese Sjögran, für die das 1:4 (0:2) gegen Deutschland nicht nur das WM-Aus, sondern auch das Karriereende bedeutete. Aber die deutsche Stürmerin war in diesem Moment vielleicht nicht ganz die Richtige für aufbauende Worte. Sie war es ja, die den Kummer der Schwedinnen in erster Linie verursacht hatte.

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(Foto: imago/ZUMA Press)

Schweden-Expertin: Angreiferin Anja Mittag (11) nutzt ihre Kenntnisse der schwedischen Liga zum deutschen Führungstreffer.

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(Foto: Dennis Grombkowski/Getty Images)

Nach einer tollen Kombination im Mittelfeld zieht sie von der Strafraumgrenze ab und zirkelt den Ball ins rechte Eck.

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(Foto: Justin Tang/AP)

Kurz vor der Halbzeit ist Mittag auch am 2:0 beteiligt: Die Schwedin Ilestedt bringt sie im Strafraum zu Fall, den Strafstoß verwandelt Celia Sasic.

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(Foto: AFP)

Das 3:0 erzielt wieder Sasic: Nach einem Abpraller steht die Stürmerin gut - Hedvig Lindahl im schwedischen Tor kann ihren Schuss nicht festhalten.

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(Foto: Dennis Grombkowski/Getty Images)

Da ist die Partie eigentlich entschieden: Schweden gelingt nach vorne nicht mehr viel - Sasic freut sich über den Einzug ins Viertelfinale.

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(Foto: Andre Ringuette/AFP)

Schwedische Ergebniskosmetik: In der 82. Minute erzielt Linda Sembrant (10, hinten) nach einem Freistoß per Kopf doch noch ein Tor für Schweden.

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(Foto: Dennis Grombkowski/Getty Images)

Sechs Minuten später macht die eingewechselte Deutsche Dzsenifer Marozsan (10) alles klar: Eine Flanke duselt sie - immerhin sehenswert - ins Tor.

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(Foto: Dennis Grombkowski/Getty Images)

Nach einem ungefährdeten Sieg steht Deutschland im Viertelfinale. "Das kann ein Schlüsselspiel gewesen sein", diagnostiziert Bundestrainerin Neid.

Erst brachte Mittag die deutsche Elf mit einem kühl überlegten Schlenzer zum 1:0 die Führung (24.). Dann holte sie mit einem geschickt geführten Zweikampf den Strafstoß heraus, den Offensivkollegin Celia Sasic zum 2:0-Halbzeitstand verwandelte (35.). Nachdem Sasic dann noch ein Abstaubertor per Kopf nachgelegt (78.) und auch die eingewechselte Dzsenifer Marozsan getroffen hatte (88.), stand das 4:1 (2:0) fest - und damit der Einzug ins WM-Viertelfinale. Der zwischenzeitliche Ehrentreffer für Schweden durch Linda Sembrant (88.) war nur ein Eintrag in die Statistik. Und in die Statistik schreiben sich bei dieser WM in Kanada vor allem die Deutschen gerade eindrucksvoll ein.

"Ansonsten sind wir ja immer unzufrieden mit unserer Chancenauswertung, aber vier Tore gegen Schweden - das ist schon echt in Ordnung", sagte Mittag. 19 Mal hat Deutschland bei dieser WM nach jetzt vier Spielen bereits getroffen, rekordverdächtige 117 Torschüsse hat die Mannschaft von Bundestrainerin Silvia Neid dazu abgegeben. Und das bei einem Turnier, das durch das zumeist schwarze Gummigranulat auf dem Kunstrasen in der Sonne extreme Temperaturen mit sich bringt.

"Eine Affenhitze" habe es am Samstag auf dem Platz in Ottawa gehabt, meinte Torfrau Nadine Angerer, "es war echt eine Hitzeschlacht". Rund 38 Grad seien es auf der Oberfläche gewesen, berichtete Bundestrainerin Silvia Neid. Nicht nur Sasic, 26, musste deshalb an ihre Grenzen gehen: "Schon nach zehn Minuten, glaube ich, hatte ich keine Flüssigkeit mehr in mir. Ich konnte nicht mal mehr den Mund aufmachen, so trocken war der. Es war schon sehr, sehr hart", sagte die Stürmerin.

Die körperlich fordernden Bedingungen im sommerlichen Kanada halten die deutschen Fußballerinnen allerdings nicht davon ab, die Gegner mit ihrem laufintensiven Pressingspiel weiter zu erschrecken. Mittag und Sasic führen die WM-Torjägerliste inzwischen mit jeweils fünf Treffern an, und das hungrige Sturmduo, das nur die Spitze einer sehr breit angelegten Offensivstärke ist, sorgt bei der Konkurrenz längst für Unbehagen. "Sie sind sehr gut und bewegen sich gut, Deutschlands Offensivspiel ist überhaupt sehr gut und dominant", sagte Schwedens Trainerin Pia Sundhage. "Deutschland hat es heute verdient, weiterzukommen. Wir haben gekämpft, wir haben es versucht, aber es war offensichtlich nicht genug."

Auch die 55-Jährige hatte in der Kabine mit den Tränen gekämpft, zu viele Abschiede und Gedanken waren bei den Schwedinnen zu verarbeiten. Durch die Niederlage ist das Olympiaturnier 2016 verpasst, ob Sundhage nun weitermacht oder Platz für jemand neuen macht, ließ sie offen: "Ich will jetzt nichts sagen, was ich später vielleicht bereue", meinte Sundhage und ergänzte: "Der Verband muss jetzt sagen, ob er mich noch brauchen kann. Und auch ich muss überlegen, ob ich das hier noch will."

Anja Mittag hat für sich bereits vor der WM beschlossen, dass sie nach den für sie erfolgreichen Jahren in Schweden noch einmal etwas Neues ausprobieren will. Vor vier Jahren erlebte die Stürmerin den bittersten Moment ihrer Karriere, als sie bei der Nominierung zur Heim-Weltmeisterschaft in letzter Sekunde aus dem Kader fiel. Damals, erzählte Mittag einmal, "habe ich keine Zeitung mehr gelesen und keinen Fernseher mehr angemacht". Sie wollte sich schützen vor den Bildern und vor der Enttäuschung einer WM ohne sie.

Im ersten Impuls hat Mittag damals sogar überlegt, mit dem Fußball aufzuhören, doch dann traf sie den Entschluss, von Potsdam nach Malmö zu wechseln. "Das war genau das Richtige. Die Veränderung hat mir gut getan, in jeder Hinsicht", sagt Mittag. "Sie hat sich dort wunderbar entwickelt und ist reifer und sicherer geworden", sagt auch Bundestrainerin Neid. 2013 bei der EM in Schweden gehörte Mittag wieder zum Kader - und schoss im Finale dann prompt den Siegtreffer.

Seitdem trägt die Tattoo-Liebhaberin das Datum ihres Triumphs auf der Haut: "Stockholm, 28.7.2013" ist auf der Innenseite ihres linken Unterarms zu lesen. Längst spricht sie fließend Schwedisch, hat dort Freunde und gedankliche Freiheit gefunden. Dennoch wechselt sie jetzt nach der WM zum französischen Champions-League-Finalisten Paris St. Germain. Gegen die Französinnen geht es jetzt wohl auch im Viertelfinale am Freitag in Montréal, aber das schreckt Anja Mittag nicht: "Ich denke, ich habe im Moment ein gutes Selbstbewusstsein."

© SZ vom 22.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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