Frankreich:Künstler ohne Fluss

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"Wir müssen uns erst aneinander gewöhnen": Beim Auftaktsieg gegen Australien wirkt der Turnierfavorit wie eine Gruppe von Einzelspielern ohne Zusammenhang. Das 2:1 sichert Pogbas produktive Wut.

Von Benedikt Warmbrunn, Kasan

Paul Pogba hüpfte auf dem linken Bein, ein erster Hüpfer, ein zweiter, er schaute verärgert an sich herunter, er wollte sich beschweren über diesen groben Einsatz. Dann entdeckte er, dass es schlimmer war als ein Foul: Er strahlte nur noch halb so kräftig. Ihm fehlte das linke Modell seiner Schuhe, die mit vielen Spezialeffekten gestaltet wurden, wie sie einem der Welt der Gewöhnlichen längst entrückten Künstler wie ihm, Pogba, zustehen. Ein sockenartiger Einschlupfbereich statt dieser für die Kontrolle des Balles so hässlichen Schnürsenkel. Eine sog. Kontrollhaut, die den Ball am Fuß kleben lässt, so verspricht es der Hersteller. Und diese der Welt des Gewöhnlichen entrückte Farbe, vom Hersteller getauft auf den Namen Solargelb.

Pogba hüpfte auf einem Bein zurück, als könne er ohne seinen solargelben Superschuh nicht laufen. Er schlupfte in seinen Schuh, warf einen bösen Blick auf Tom Rogic, auf den Mann, der ihm auf den Schuh getreten war. Pogbas Blick bemühte sich nicht zu verbergen, welche Verwünschungen er an Rogic richtete, an den Mann, der ihm das Strahlen geraubt hatte. Dann schwor Pogba ihm Rache.

Er drückte die Brust raus, er zog sich um ein paar Zentimeter in die Höhe, er dirigierte, er war nun der Anführer der Franzosen, mehr noch, er war eine Erscheinung, wie es sie in der Welt der Gewöhnlichen nicht gibt, neben ihm schienen die bissigen Australier um einige Zentimeter zu schrumpfen. Pogba hatte nach Rogic' Attacke auf seinen Schuh den Ehrgeiz wiederentdeckt, den Stolz, auch das innere Strahlen, 70 Minuten nach dem Anpfiff.

Zwei Minuten später wurde Rogic ausgewechselt, 72 Minuten lang hatte er Pogba genervt, der Franzose schickte ihm einen langen Blick hinterher, der sich wieder keine Mühe gab, all die Verwünschungen zu verbergen. Kaum hatte Rogic die Seitenlinie überschritten, schrumpfte Pogba wieder in sich zusammen. Seine Schuhe strahlten weiter.

2:1 (0:0) gewannen die Franzosen ihre Auftaktpartie am Samstag in Kasan gegen Australien, sie führen wie erwartet nach dem ersten Spieltag ihre Gruppe an. Doch sie lieferten keine Partie ab, die ihrem Status als einer der Turnierfavoriten gerecht wurde. Der Auftritt der Franzosen glich eher dem einer Ansammlung von Künstlern, die zufällig ein Atelier teilen, die ansonsten aber alle unterschiedliche Stile pflegen, die mit völlig unterschiedlichen Materialien arbeiten und sich dabei manchmal gegenseitig die Arbeiten beschmutzen. "Unser Spiel hatte nicht genug Fluss", sagte Trainer Didier Deschamps, "es ist ein Ganzes. Sie müssen noch lernen, sich besser zu koordinieren."

Deschamps hatte nach Russland bewusst eine Mannschaft mitgenommen, die das beste Kollektiv ergeben sollte - gegen Australien allerdings passte noch nicht viel zusammen. Im Sturm spielten erstmals gemeinsam Antoine Griezmann, Kylian Mbappé und Ousmane Dembélé - ein Sturm, der zusammen für eine halbe Milliarde Euro gehandelt wird. Gerade in den ersten Minuten waren sie auch zu schnell, zu wendig, zu trickreich für die eher für gewöhnliche Bewegungen gebauten Beine der Australier. Dann aber stellten diese australischen Beine sich immer näher heran an die filigranen Künstler, manchmal rempelten sie auch ein bisschen, und das reichte, um den Franzosen die Lust auf die Show zu nehmen. "Wir hatten den falschen Rhythmus, wir waren nicht schnell genug", sagte Deschamps, "und wir haben ihnen Zeit gegeben, ihre Reihen zu schließen."

Um Pogba herum hatte Deschamps Ngolo Kanté und Corentin Tolisso positioniert, der Trainer sagte später, dass sich Pogba dadurch "wohlfühlt". Er fühlte sich allerdings so wohl, dass er es wie seine Nebenmänner vermied, zu weit nach vorne aufzurücken, um nicht im Dickicht der beiden engen, knallharten australischen Viererketten aufgerieben zu werden. Auch die anderen Mannschaftsteile konzentrierten sich hauptsächlich darauf, nicht zu viel mit den anderen Mannschaftsteilen in Kontakt zu kommen.

Erst spät, als die Beine des Außenseiters müde geworden waren, wagte sich Pogba nach vorn, prompt erzielte er das 2:1 (81.) - allerdings hatte Gegenspieler Aziz Behich den Ball abgefälscht, es wurde als Eigentor gewertet. "Es war ein Vorgeschmack", fasste Pogba den freudlosen Auftritt zusammen. Eine Andeutung des französischen Potenzials, so wie in der Szene vor dem 1:0.

Da lief die 54. Minute, und es war der einzige Moment, in dem die Franzosen all das umsetzen, was Deschamps von ihnen erwartet. Sie hatten den richtigen Rhythmus, sie waren im Fluss, sie waren aufeinander abgestimmt. Und alles ging verdammt schnell. Pogba spielte einen präzisen Pass in den Lauf von Griezmann, der legte sich den Ball vor, doch dann grätschte ihn Joshua Risdon um - nach dem ersten WM-Eingriff des Videobeweises gab Schiedsrichter Andrés Cunha aus Uruguay Elfmeter. Griezmann verwandelte cool (58.).

Vier Minuten später allerdings beschmutzte Samuel Umtiti die Arbeit der anderen Künstler mit einer fantasievollen Aktion: Nach einer Flanke fäustelte er den Ball im Strafraum weg - es war eine besonders unkoordinierte Aktion: Hinter Umtiti wartete sein Partner in der Innenverteidigung, Raphael Varane. Australiens Kapitän Mile Jedinak verwandelte ebenfalls cool vom Elfmeterpunkt.

Später saß Griezmann im Pressekonferenzsaal der Arena in Kasan, der eher einem Hörsaal gleicht. Wie ein winziger Dozent saß er ganz unten hinter einem Tisch, irgendwann murmelte er verlegen: "Wir müssen uns erst aneinander gewöhnen."

© SZ vom 18.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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