Frankreich - Irland (15 Uhr):Schleichweg ins Schloss

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Frankreich lernt N'Golo Kanté gerade erst kennen. Das Achtelfinale gegen die Iren ist erst sein siebtes Länderspiel. (Foto: Eddie Keogh/Reuters)

N'Golo Kanté kam erst über Umwege und unterklassige Vereine zu Leicester City und von dort in die Equipe Tricolore. Jetzt ist der Mittelfeld-Mann eine fixe Größe bei Frankreich und Kandidat bei Real.

Von Claudio Catuogno, Clairefontaine-en-Yvelines

Der Linksverteidiger Patrice Evra stand mit auf dem Feld, als die französische Nationalmannschaft zuletzt gegen Irland gespielt hat. Hugo Lloris, der Torwart, war ebenfalls schon dabei. Gemeinsam feierten sie das Tor von William Gallas in der 103. Minute, das sie im letzten Moment doch noch zur Fußball-WM nach Südafrika brachte. Und zumindest Evra hatte auch kein schlechtes Gewissen, als längst alle Welt auf den TV-Bildern gesehen hatte, wie der Stürmer Thierry Henry den Ball mit der Hand mitgenommen hatte, ehe er ihn zu Gallas passte. Als die empörten Iren ein Wiederholungsspiel verlangten, schlug Evra vor, das könne man ja auf der Playstation austragen. Jetzt, da Frankreich und Irland an diesem Sonntag (15 Uhr) in Lyon im Achtelfinale erstmals wieder aufeinander treffen, wird häufig an dieses Skandalspiel erinnert.

N'Golo Kanté kann dazu wenig sagen. Kanté war damals 19 und spielte bei JS Suresnes im Departement Hauts-de-Seine bei Paris. In der neunten französischen Liga.

Ein neuer und schon unumstrittener Wachposten

Dass er es sein würde, der nun bei der Heim-EM für das Gleichgewicht im französischen Spiel zuständig ist, unumstritten auf der Position des "Wachpostens", wie die Franzosen die Sechser-Position im defensiven Mittelfeld nennen - das hat keiner erwarten können damals, vor sechseinhalb Jahren. Das Besondere ist aber: Es hat auch vor einem halben Jahr noch keiner erwartet.

Viele Wege führen in die Nationalmannschaft, aber fast all diese Routen haben auch in Frankreich gemeinsam, dass irgendwo ein Fußball-Internat, ein Nachwuchsleistungszentrum oder eine Jugend-Auswahl am Wegesrand liegen. Da sorgen die Geschichten für besonderes Aufsehen, in denen es einer mal auf einem Schleichweg schafft. Im Fall von N'Golo Kanté führte der Weg von Suresnes zu US Boulogne, dort zu einem Aufstieg in die dritte Liga, zu dem er maßgeblich beitrug - und dann weiter zu Stade Malherbe de Caen in die Normandie, zweite Liga. Und schließlich, im vergangenen Sommer, nach England zu Leicester City.

Alex Ferguson nennt ihn "den besten Spieler der Premier League"

Jetzt wohnt er in einem Schloss. Wie alle anderen Franzosen, das "chateau" in Clairefontaine-en-Yvelines ist ihr EM-Quartier. Drum herum erstreckt sich ein gigantisches Gelände mit Fußballplätzen bis zum Horizont. Erst in diesem Frühjahr war Kanté hier das erste Mal, da stand er im Schlussspurt einer aufsehenerregenden Saison mit dem Überraschungsteam aus den englischen Midlands. Alex Ferguson, die alte Trainer-Ikone von Manchester United, nannte ihn "den besten Spieler der Premier League". Und jetzt war es gut, dass Kanté Einladungen in die Nationalelf von Mali, dem Heimatland seiner Eltern, nie angenommen hatte. Didier Deschamps rief an, der französische Nationaltrainer. "Wenn ich überlege, wo ich heute bin", sagt N'Golo Kanté, "ist das schon alles sehr schnell gegangen."

Frankreich lernt diesen N'Golo Kanté gerade erst kennen, sozusagen bei laufendem Betrieb. Zum Stammspieler wurde er, weil Lassana Diarra kurz vor dem Turnier verletzt ausfiel. Das Achtelfinale gegen die Iren ist erst sein siebtes Länderspiel. Aber für Blaise Matuidi, der im Mittelfeld halbrechts vor Kanté postiert ist, ist er bereits der ideale Partner. "Er ist erstaunlich auf dem Wachposten", sagte Matuidi in Clairefontaine, "er hat außergewöhnliche Fähigkeiten als Balleroberer, ist eiskalt am Ball, spielt im Aufbauspiel einfach und genau, und außerdem ist er ein sehr guter Junge."

Ein Kobold voller Generosität

Der Trainer Deschamps hat festgestellt: "Alles wirkt so einfach bei ihm." Und Claude Makelele, der auf der Sechser-Position unter anderem bei Real Madrid und dem FC Chelsea gespielt hat und 71 Mal in der französischen Nationalelf, sagt: "Er liest sehr, sehr gut das Spiel seiner Gegner."

Le Monde hat Kanté gerade einen "Kobold" genannt (er misst nur 1,69 Meter), außerdem hat die Zeitung festgestellt, er habe "ein stetes Lächeln auf dem pausbäckigen Gesicht" und verstehe es, seine Zuhörer mit seiner "bedächtigen Stimme" für sich zu gewinnen. Auf dem Rasen sind das nicht die entscheidenden Eigenschaften. Da räumt er für seine Hinterleute Laurent Koscielny und Adil Rami viele Bälle weg - und verschafft dem Spielmacher Paul Pogba wiederum die Freiheiten, die er braucht. Makelele sagte der Sportzeitung L'Équipe: "Die wichtigste Eigenschaft auf diesem Posten ist die Generosität, und dass er die hat, sieht jeder."

Kanté, glaubt Makelele, "wird mal ein Schlüsselspieler in einer großen europäischen Mannschaft". Real Madrid hat den Franzosen schon auf seine Beobachtungsliste gesetzt.

Aber natürlich will Leicester City ihn unbedingt behalten. Er ist ja Teil dieser erstaunlichen Erfolgsgeschichte, die den Klub im Mai bis zum Meistertitel in der Premier League und damit auch in die Champions League geführt hat. Kantés Vertrag gilt noch drei Jahre, aber seine Ausstiegsklausel ist auf umgerechnet 25 Millionen Euro festgeschrieben. Wenn die EM für ihn weiter so läuft wie bisher, könnte die Summe zu gering gewählt sein.

© SZ vom 26.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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