Formel 1:Adrenalin für den Vagabunden

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Noch nie fand der Große Preis von Europa so abgelegen statt wie nun in Baku. Während Kritiker die Menschenrechtslage anprangern, ist für die Rennställe allein die Anreise eine Herausforderung.

Von Elmar Brümmer, Baku

Von all den schönen Überschriften, die sich Ilham Alijew, der Staatspräsident von Aserbaidschan, vom Großen Preis von Europa am Wochenende erhofft, dürfte ihm die am wenigsten gefallen, die von einem "neuen Tiefpunkt" in der Geschichte der Formel 1 spricht. Das lässt sich wunderbar doppeldeutig verstehen, wenn man die Proteste der Menschenrechtsorganisation "Sport for Rights" vor dem Rennen in Betracht zieht. Die hat die Formel-1-Macher nämlich aufgefordert, sie mögen den Umgang mit der Opposition und die inhaftierten Regimekritiker und Journalisten offen ansprechen. Doch der Tiefpunkt, der in vielen Vorschauen für die Fahrt ins motorsportliche Neuland erwähnt wird, ist rein topografisch gemeint: Teile des sechs Kilometer langen Stadtkurses liegen bis zu 28 Meter unter dem Meeresspiegel.

Der Große Preis von Europa ist ein Vagabund, er wurde 1983 in Brands Hatch ins Leben gerufen, aber auch schon in Donington, Jerez und auf dem Nürburgring ausgetragen, zuletzt vor vier Jahren in Valencia. Das Prädikat "Europa" mag Alijew sehr, obwohl die ehemalige Sowjetrepublik streng genommen zu Vorderasien zählt und die europäische Hauptstadt Brüssel rund 3600 Kilometer Luftlinie entfernt liegt. Das wegen seiner Öl- und Gasvorkommen vermögende Land hat auch schon den Grand Prix de la Chanson ausgerichtet und die Europaspiele; bei der Fußball-EM 2020 bekommt es ein Viertelfinalspiel. Aber die Aufmerksamkeit der ganzen Welt garantiert zunächst nur die Formel 1.

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(Foto: Thomas Melzer/imago)

Tiefpunkt für die Formel 1: Manche Teile der Rennstrecke in Baku liegen bis zu 28 Meter unter dem Meeresspiegel.

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(Foto: Tofik Babayev/AFP)

Ein anderer Tiefpunkt: Die Menschenrechtsorganisation "Sport for Rights" beklagt die Menschenrechtslage in Aserbaidschan.

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(Foto: Mark Thompson/Getty Images)

Präsident Alijew mag das Prädikat Europa: Baku soll ein Monaco des Ostens werden, dafür hat Ecclestones Hausarchitekt eine Piste durch die Altstadt gebaut.

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(Foto: Luca Bruno/AP)

Rennpilot Sebastian Vettel prüft die Strecke.

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(Foto: Luca Bruno/Getty Images)

Gerard O'Reilly, der Logistikmanager des Red-Bull-Teams, über den Umzug: "Das ist eine harte Nummer für die Leute. Der Jetlag nagt an uns allen."

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Viel Zeit bleibt zwischen dem Großen Preis von Kanada vom vergangenen Sonntag und dem Rennen in Baku nicht - logistisch eine Herausforderung.

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(Foto: Valdrin Xhemaj/dpa)

Arbeiten unter Hochdruck: 9000 Flugkilometer Entfernung, acht Stunden Zeitverschiebung, drei Frachtmaschinen Material und etwa 1500 Menschen im Tross.

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(Foto: Valdrin Xhemaj/dpa)

Es soll der "schnellste Stadtkurs" der Welt sein, auf der zwei Kilometer langen Geraden, der längsten der Formel 1, könnte Tempo 350 erreicht werden.

Ein Monaco des Ostens möchte die Metropole am Kaspischen Meer werden, dafür hat Bernie Ecclestones deutscher Hausarchitekt Hermann Tilke eine sechs Kilometer lange Piste durch die Altstadt gebaut. McLaren-Pilot Fernando Alonso verspricht als offizieller Grand-Prix-Botschafter, dass man dieses Rennen als das denkwürdigste der Saison in Erinnerung behalten werde. Weil Alijew den Superlativ so sehr schätzt, muss es der "schnellste Stadtkurs" der Welt sein, auf der zwei Kilometer langen Geraden, der längsten der Formel 1, wird Tempo 350 erreicht. So sagen es jedenfalls die Simulationen voraus. Eine weniger als acht Meter breite Engstelle an der Stadtmauer soll dazu das schmalste Stück Strecke im Kalender sein, der durch das 32. Gastgeberland der Formel-1-Geschichte auf 21 WM-Läufe aufgebläht wurde.

Was selbst bei den Logistikern der Formel-1-Teams für Adrenalinschübe sorgt, obwohl die ein sehr hohes Stresslevel gewohnt sind. Denn bei sechs Weltmeisterschaftsläufen innerhalb von sieben Wochen finden die wahren Rennen zwischen den Rennen statt. Am vergangenen Sonntag gegen 22 Uhr war der Große Preis von Kanada erst gelaufen, am Donnerstag aber schon mussten die Rennwagen zur technischen Abnahme in Baku vorgeführt werden. 9000 Flugkilometer Entfernung, acht Stunden Zeitverschiebung, drei Frachtmaschinen voller Material und etwa 1500 Menschen im Tross sind die Eckdaten für den Transporter-Grand-Prix. Während Lewis Hamilton und Sebastian Vettel in Montreal noch um den Sieg fuhren, rollten die Gabelstapler durch das Fahrerlager. Acht Stunden nach Rennende war alles gepackt, am Nachmittag hoben die Frachtmaschinen zum Flug über den Atlantik nach Vorderasien ab. Drei Charter-Flugzeuge brachten einen Großteil der Teammitglieder direkt nach Aserbaidschan. Wer keinen Platz bekommen hatte oder am Flugpreis sparen wollte, der musste via London, Paris, Zürich, Istanbul oder Moskau ans Kaspische Meer reisen.

In der direkt vor dem Regierungsgebäude aufgebauten Boxengasse wurden Rennwagen und Mechaniker bereits erwartet. Jedes Team hat seine Logistikabteilung so besetzt, dass bei den so genannten Back-to-Back-Rennen innerhalb von einer Woche eine Vorhut zum nächsten Austragungsort geschickt wird. Und ein Teil des schweren Gerätes wurde per Seefracht von Sotschi aus, wo Anfang Mai der russische Grand Prix stattgefunden hatte, nach Baku geschickt. Um die Garage einsatzbereit zu machen und die zum Teil zerlegten Autos wieder zusammenzubauen, werden aber mindestens 20 Mann gebraucht. "Das ist eine harte Nummer für die Leute", sagt Gerard O'Reilly, der Logistikmanager des Red-Bull-Teams, "denn der Jetlag nagt an uns allen. In so kurzer Zeit von minus fünf auf plus drei Stunden zu wechseln, ist eine Riesenherausforderung für den Körper. Aber irgendjemand muss es ja machen." Er verspricht: "Wir werden das hinkriegen." Sollten die Strapazen im weiteren Verlauf des umfangreichsten Kalenders der Formel-1-Weltmeisterschaft noch zunehmen, überlegen große Teams wie Mercedes, Red Bull oder Ferrari, einige Posten in ihrem Team doppelt zu besetzen. Die Mechaniker sind die Helden des Grand-Prix-Alltags, hauptsächlich Engländer. Die meisten davon genügen einer Faustregel der Formel 1: "Diesen Beruf sucht man sich nicht aus. Dieser Beruf sucht sich seine Menschen aus."

© SZ vom 17.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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