Eiskunstlauf-WM:Straucheln zur Musik

Figure Skating - World Figure Skating Championships

Halsbrecherisch gut: Nathan Chen.

(Foto: Alessandro Garofalo/Reuters)

Der US-Amerikaner Nathan Chen, 18, wird Eiskunstlauf-Weltmeister: Er landet sechs Vierfachsprünge in der Kür und deklassiert die Konkurrenz - die vor allem durch Stürze auffällt.

Von Barbara Klimke, Mailand

Sein Stehvermögen war verblüffend genug. Noch erstaunlicher wirkte der Umstand, dass Nathan Chen seinen Coup auf Kufen am Samstag bei der Eiskunstlauf-Weltmeisterschaft offenbar kühl bis ans Herz plante: Natürlich habe er alle Konkurrenten vor ihm und deren Stürze auf einem Twitter-Blog verfolgt, erzählte er später. Die Gelegenheit war günstig, das wusste er. Und so zeigte er das, wozu er als Einziger fähig ist.

Als Letzter des Wettbewerbs kam Chen in Mailand am Samstag in die Arena: Er drehte ein paar Kurven und hämmerte einen Vierfachsprung aufs Eis. Lief weiter und hämmerte den nächsten Vierfachsprung hinterher. Und noch einen. Und noch einen, noch einen, noch einen. Als habe er einen Akku in den Kufen. Sechs Vierfachsprünge standen nach viereinhalb Minuten Kür für ihn zu Buche, kein Mensch außer dem 18-Jährigen aus Salt Lake City ist in dieser kurzen Zeit jemals so oft in der Luft um die eigene Achse rotiert - jedenfalls nicht unfallfrei und mit Eisenschienen an den Füßen. Und was sagte der neue Weltmeister anschließend dazu? Zu Nummer sechs habe er sich kurz vor Wettkampfbeginn entschlossen; der Vierfach-Salchow sei im Übrigen noch nicht ganz fehlerfrei gewesen: "Und es gibt immer noch etwas zu perfektionieren."

So also sieht die Zukunft des Eiskunstlaufs aus: Zumindest wenn sich Männer wie Nathan Chen durchsetzen, die diesen Sport mit maximaler technischer Präzision ausführen und das emotionale Störpotential - die Gefühle - auf einem absoluten Minimum halten. Auch Nathan Chen kann fantastisch und ausdrucksstark Schlittschuh laufen. Aber wenn der Kunstlauf zum Sprunglauf wird, muss sich notwendigerweise alle Kraft und Energie auf Anlaufbogen, Absprung, Rotation und Landung konzentrieren.

Bis zu dieser Zukunft dauert es allerdings noch ein Weilchen. Auch das lässt sich nach Abschluss der Männer-Konkurrenz von Mailand feststellen. Denn an Nathan Chen, den Eis-Hochspringer, kommt momentan noch niemand sonst heran. 321,40 Punkte erreichte das US-Sprungwunder bei der WM, und damit fast 50 Punkte mehr als der zweitplatzierte Shoma Uno aus Japan (273,77), der bei den Olympischen Winterspielen vergangenen Monat Dritter war. Olympiasieger Yuzuru Hanyu hatte seine Teilnahme an der WM wegen einer Bänderverletzung abgesagt.

Wertungssystem belohnt riskoreiche Sprünge

Die Gegenwart heißt eher: Straucheln mit Musik. Alle versuchen, so oft wie möglich vierfach zu springen, die meisten stürzen - um dann auf dem Hosenboden weiterzudrehen. Abgesehen von Nathan Chen war der Männer-Wettbewerb am Samstag ein Festival des Scheiterns. Michail Koljada, der WM-Dritte aus Russland (272,32 Punkte), rutschte beim Vierfach-Lutz aus. Shoma Uno, der leicht verletzt in den Wettkampf ging, saß in der Kür dreimal auf dem Hintern, unter anderem beim Vierfach-Rittberger und beim Vierfach-Flip. Dass er trotzdem Zweiter wurde und sich sogar vom fünften Platz nach der Kurzkür in die Medaillenränge verbesserte, lag erstens am Wertungssystem, weil es Läufer mit Vierfachsprüngen auch nach Stürzen im Reglement noch ordentlich honoriert. Und außerdem stolperten einige seiner Konkurrenten noch ärger übers Eis. Der Chinese Boyang Jin ging fünf Mal in der Kür zu Boden und schlitterte im Klassement ungebremst von Rang 4 auf 19. Der US-Amerikaner Vincent Zhou konnte keinen seiner drei geplanten Vierfachsprünge sauber landen und rutschte von Platz 3 auf 14.

Damit rangierte er nur einen Platz vor dem Deutschen Meister Paul Fentz, 25, aus Berlin, der sich an dem Überbietungs-Wettkampf gar nicht erst beteiligt hatte. Fentz hat nur einen Vierfachsprung, den Toeloop, im Repertoire, den er nahezu sauber zur Landung brachte. Der Lohn war die beste WM-Platzierung seiner Karriere.

Hübsch anzusehen war der Sprung-Contest der Männer am Samstag nicht. Der Weltverband ISU wird sich beim Kongress im Juni in Sevilla überlegen, ob die Zahl der riskanten Luftrotationen im Eiskunstlauf begrenzt werden soll. Denn Nathan Chen hatte schon vor einem Jahr erklärt, dass er irgendwann sogar einen Sprung mit fünf Drehungen in Angriff nehmen will. Und der Rest der Eislauf-Konkurrenz? Müsste sich dann vermutlich Propeller besorgen, um mitzuhalten.

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