Eishockey:Mit der Kraft des Streichspielers

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Die Vegas Golden Knights ziehen in ihrer ersten NHL-Saison gleich ins Stanley-Cup-Finale ein - auch dank Keeper Fleury.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Marc-André Fleury fuhr bedröppelt vom Eis, gedemütigt von vier Gegentoren in weniger als 13 Spielminuten, geschmäht von den gegnerischen Fans. Ein Jahr ist das her, und der damalige Torwart der Pittsburgh Penguins konnte nicht ahnen, dass dieser deprimierende Abend der erste gefallene Dominostein in einem gar erstaunlichen Bild ist, das nun erst in seiner ganzen Pracht sichtbar wird. Fleury gewann damals als Ersatzmann den Stanley Cup, im Sommer wurde er dann zu den Vegas Golden Knights transferiert, mit denen er nun als Stammspieler in die Finalserie der nordamerikanischen Eishockeyliga NHL zurückkehrt.

Die Knights gewannen jüngst die fünfte Halbfinalpartie bei den Winnipeg Jets mit 2:1, und daheim in Las Vegas versammelten sich die Fans auf der legendären sündigen Meile der Stadt. Sie feierten, dass die Organisation bereits in ihrer ersten Saison das Finale erreicht hat; das hat in den vier großen amerikanischen Sportarten bislang nur der Eishockeyklub St. Louis Blues im Jahr 1968 geschafft. Und die Fans wussten auch, wem sie das zu verdanken haben: Das Maskottchen der Golden Knights, ein güldener Ritter, präsentierte auf dem Las Vegas Boulevard ein Schild mit heraldischer Lilie und einem Wortspiel auf den Torwart: "Pouvoir Des Fleury", also: Flower Power. Oder: Die Kraft des Fleury.

94,7 Prozent aller Schüsse hat Fleury bislang in dieser Ausscheidungsrunde abgewehrt, das ist die beste Fangquote der NHL-Geschichte. Mit nur einem Gegentor bei 32 Schüssen übertraf er im letzten Halbfinalspiel auch die Bestmarke von Jonathan Quick vor sechs Jahren (LA Kings; 94,6 Prozent). Es ist die erstaunliche Geschichte eines erstaunlichen Torwarts, so wie es die erstaunliche Geschichte eines erstaunlichen Klubs in einer erstaunlichen Stadt ist - und sie wird umso erstaunlicher, wenn man weiß, wie das alles passiert ist.

Anführer: Marc-André Fleury. (Foto: Jason Halstead/AFP)

Die Penguins hatten Fleury vor einem Jahr während der Halbfinalserie gegen die Ottawa Senators aus dem Tor genommen und wieder dem jungen und zuvor verletzten Matt Murray vertraut. Nach der Saison mussten die Verantwortlichen entscheiden, welche Spieler sie für den neuen Klub aus Las Vegas verfügbar machen würden. Pittsburgh hatte bereits einen Stammtorwart, und wenn sie nun den Ersatzmann Fleury anboten, dann konnten sie fast sicher sein, dass ihnen kein bedeutender Feldspieler weggeschnappt würde.

George McPhee, der Manager der Golden Knights, grifft erfreut zu. Fleury sollte der einzige Star in diesem Kader sein: "Wir wollten keine Berühmtheiten. Wir wollten Leute, die in ein paar Jahren berühmt sein werden." Torhüter dürfen dem Reglement zufolge keine offiziellen Kapitäne eines NHL-Teams sein, Fleury sollte der Mannschaft dennoch als Anführer vorstehen - die Frage lautete nur: Kann der das? Er hatte in Pittsburgh zwar 2009 als Stammtorhüter den Titel gewonnen, danach aber gerade in den Playoffs häufig gewackelt und deshalb die Meisterschaften 2016 und 2017 nur als Ersatzmann erlebt.

"Ich war natürlich ein wenig geschockt, als ich meinen Namen auf der Liste mit den neuen Golden-Knights-Spielern gesehen habe, doch dann hab ich das als Chance interpretiert. Das war also schon in Ordnung", sagt Fleury heute mit der Gelassenheit eines Menschen, der schon einiges erlebt hat in seiner Laufbahn und deshalb nicht mehr alles unfasslich ernst nimmt. So haben sie ihn dann auch in Las Vegas erlebt: Fleury ist ein Akrobat auf dem Eis mit unfasslichen Reflexen, abseits davon ein streichespielender Spaßvogel und äußerst geduldig im Umgang mit den Fans.

Rückhalt: 94,7 Prozent aller Schüsse hat Marc-André Fleury in den aktuellen Playoffs abgewehrt – die beste Fangquote der NHL-Historie. (Foto: Trevor Hagan/AP)

Fleury ist kein Wohltäter, nur weil er Autogramme schreibt oder nach Partien ein paar Pucks ins Publikum wirft. Als Führungskraft diktiert er jedoch die Kultur in einem Klub: Wenn ein 33 Jahre alter Veteran ein fröhliches Kerlchen ist, dann kann der 23-jährige Jungspund nicht als Stinkstiefel daherkommen. Das zeigt sich auch dem Eis, zum Beispiel im letzten Halbfinale gegen Winnipeg, als Josh Morrissey zum zwischenzeitlichen Ausgleich traf. Es gibt Torhüter, die Mitspieler oder Schiedsrichter für so einen Gegentreffer verantwortlich machen. Fleury fuhr aus dem Tor, er hob seinen Schläger als Signal an die Kollegen: "Sorry, mein Fehler!" Es war gewiss nicht sein Fehler, doch sorgte die Geste für Beruhigung, wie Verteidiger Deryk Engelland später sagte: "Es tut gut, wenn man weiß, dass da hinten einer steht, der einen Gegentreffer auf seine Kappe nimmt, selbst wenn er nichts dafür kann."

Ein Anführer muss seine Stellung nicht immer durch martialisches Gehabe untermauern, er kann das auch durch Gelassenheit tun. Als es während der dritten Partie gegen die Jets zu einer Rangelei kam, da beteiligte sich Fleury nicht an der Schubserei, sondern steckte Gegenspieler Blake Wheeler den feuchten Zeigefinger ins Ohr. "Ach, ich habe mich irgendwie überflüssig gefühlt, weil ich nicht mitmachen durfte", sagte er danach grinsend: "Ich wollte nur ein bisschen Spaß machen."

Beim Stanley-Cup-Finale (das entscheidende siebte Spiel im zweiten Halbfinale zwischen Washington und Tampa Bay findet an diesem Mittwoch statt) soll nun der letzte Dominostein in Fleurys Wahnsinnsjahr umfallen. Wer übrigens vor dieser Saison 20 Dollar auf diesen Ausgang der Saison getippt hat, der würde bei einem Titelgewinn der Golden Knights 10 000 Dollar gewinnen.

© SZ vom 23.05.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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