Boxen:Ein Zwerg als Weltmacht

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Ikboljon Choldarow, 20. (Foto: Christophe Gateau/dpa)

Der deutsche Box-Verband lernt bei seiner Heim-WM, dass andere Nationen die lauteste Musik machen: zum Beispiel das geheimnisvolle, ultraerfolgreiche Usbekistan.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Artur Grigorjan fand den Usbeken amerikanisch. Er sagt das mit aller Vorsicht und ganz wertfrei, weil er auf keinen Fall den Leuten aus seinem Heimatland zu nahe treten will, für das er 1992 unter dem GUS-Banner bei Olympia boxte und später Profi-Weltmeister wurde. Und auch wenn Grigorjan, 49, jetzt in Hamburg den deutschen Olympia-Dritten Artem Harutyunyan trainiert, den der Usbeke Ikboljon Choldarow im Viertelfinale der Hamburger Box-WM nach knapper Punktrichterentscheidung ausschaltete - "ich bin neutral", versichert Grigorjan. Aber sein fachmännischer Eindruck war nun mal so, als er den Usbeken boxen und klammern sah: Choldarows giftiger Stil hatte eine amerikanische Note. "Ein bisschen provozieren, ein bisschen schmutzig, nicht so sauber." Schön ist anders, aber wie gesagt, Grigorjan will das nicht kritisieren. Wer gewinnt, hat recht. Basta.

Die Box-WM in Hamburg steht vor ihren letzten Akten. An diesem Samstag finden die Finalkämpfe um Gold statt, und bei den Deutschen wirkt noch ein bisschen der Schmerz darüber nach, dass der Lokalmatador Harutyunyan wegen seiner hauchdünnen Niederlage nicht als Aktiver dabei sein kann. Der Oberhausener Abass Baraou, 22, Europameister im Weltergewicht, hat als Halbfinalist immerhin verhindert, dass der Deutsche Boxsport-Verband (DBV) die Heim-WM ganz ohne Medaille abschließt. Aber wieder mal lernt der DBV, dass im olympischen Boxen andere Nationen die lauteste Musik machen: Kuba, Kasachstan - und eben Usbekistan.

Das zentralasiatische Land ist als Sportnation ein Zwerg, aber im Boxen ein Riese. Sein Beispiel zeigt erneut, dass jede Nation das Zeug zur Weltmacht hat, wenn es die richtige Nische für sich findet. Zum Beispiel das olympische Boxen, das so etwas ist wie die leisere Vorstufe zum kommerziellen Boxen. Bei Olympia 2016 in Rio war Usbekistan die erfolgreichste Box-Nation. Hasanboy Dusmatow, Shachobidin Zoirow und Fasliddin Gaibnasarow gewannen Gold, da konnte ausnahmsweise nicht mal Kuba mithalten. Und bei der WM stehen die Usbeken wieder in diversen Finals - etwa Harutyunyans Bezwinger Choldarow, der im Halbfinale des Halbweltergewichts einen Mann mit authentischem US-Stil bezwang, Freudis Rojas aus Las Vegas.

Jede Nation schöpft aus dem Erbe ihrer Traditionen, und wenn es um Sport geht, hat dieses Erbe in der früheren Sowjetrepublik Usbekistan viel mit Boxen zu tun. Artur Grigorjan kann das bezeugen: Als Elfjähriger begann er in Taschkent mit dem Faustkampf, wurde vom sowjetischen Leistungssportsystem aufgenommen und nach einigen Jahren als erfolgreicher Auslandsprofi ausgespuckt. Bis heute ist er ein berühmter Mann in Usbekistan, auch wenn er das Land einst fürs Preisboxen verließ und für den Hamburger Boxstall Universum WM-Titel sammelte.

Das aktuelle Hoch der usbekischen Boxer hat allerdings eine etwas andere Qualität als früher. So erfolgreich wie 2016 waren die Olympiasportler noch nie. Das wiederum hat viel damit zu tun, dass die Politik-Elite im autoritär geführten Staat vor einigen Jahren eine außergewöhnliche Chance im Leistungssport erkannte; namentlich der damalige Staatspräsident Islom Karimow sah sie. "Da wurde konsequent investiert", sagt DBV-Sportdirektor Michael Müller. Zum Beispiel in ein Team für die World Series of Boxing, eine teure internationale Liga des olympischen Weltverbandes Aiba, in der sich begabte Athleten Wettkampfhärte verschaffen. Oder auch in stattliche Prämien für Medaillengewinne, die nach Müllers Erkenntnis aber nicht mehr unbedingt astronomische Summen vorsehen, weil das Sportler zu einem unsteten Lebenswandel inspirieren könnte - sondern Häuser oder Lebensrenten. Was Nachhaltiges eben.

Im Sportschulsystem sowjetischer Prägung finden Sichtung und frühe Technikschule statt. Ein Erbe dieser Prägung ist freilich auch der chemische Betrug, der bei Olympias Kraftmessen weiter zum Vorschein kommt, von kasachischen Gewichthebern bis hin zu usbekischen Ringern. Die Boxer? Da gibt es kaum Gewissheiten; die Aiba machte 2014 eine Trainingskontrolle, 2015 gar keine. Das usbekische System produziert jedenfalls einen breiten Pool an hochbegabten Boxern. Trainer Michael Timm, der deutsche Teamleiter bei der WM, stellt fest, dass es so etwas wie einen nacholympischen Kater nicht gibt für die usbekische Auswahl. Alle drei Olympiasieger des Landes sind mittlerweile Profis und waren bei der WM gar nicht am Start. Trotzdem folgen nahtlos neue Medaillengewinner. "Da können Sie mal sehen, wie die gearbeitet haben", sagt Timm: "Wenn bei denen eine Truppe weg ist, steht gleich die nächste Gewehr bei Fuß."

Vielleicht ist der sportliche Erfolg der Usbeken auch das Symptom einer Tauwetterphase in Taschkent. Usbekistan steht in der Kritik von Menschenrechtlern wegen seines autoritären Systems. Aber derzeit scheinen sich ein paar Tore zu öffnen. Das zentralasiatische Nachrichten-Portal Novastan berichtete kürzlich, dass die BBC wieder ein Büro in Taschkent eröffnen wolle. Und dass es gar für die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, seit 2010 aus Usbekistan ausgesperrt, die Aussicht gebe, bald wieder eine Vertretung dort zu haben. Außerdem hat Schawkat Mirsijojew, Nachfolger des 2016 verstorbenen Präsidenten Karimow, 2017 als "Jahr des Dialogs" ausgerufen. Und dass der Usbeke Choldarow wie ein Amerikaner boxt, könnte ja auch das Zeichen einer neuen Weltoffenheit in der geheimnisvollen Box-Nation Usbekistan sein.

© SZ vom 02.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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