Box-WM:Der Mann, der das Handtuch hält

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Einseifen oder aufrichten: Ulli Wegner hat viele Boxer groß gemacht - sein Schüler Marco Huck muss den WM-Titel im Cruisergewicht verteidigen.

Holger Gertz

Jeden Morgen um kurz nach zehn hält Ulli Wegner seine Morgenpredigt, er spricht hinein in einen Dunst aus Schweiß und Aftershave, denn seine Kirche ist die Boxhalle des Sauerland-Stalls an der Hanns-Braun-Straße. Nirgendwo läuten Glocken, dafür hängen überall Boxbirnen von der Decke, denen Ulli Wegner, der Boxtrainer, manchmal einen sanften Schubser gibt.

Der Trainer und sein Schüler: Ulli Wegner und Marco Huck. (Foto: Foto: ddp)

Jeden Morgen um kurz nach zehn sitzen junge Gestalten vor ihm, in Sweat-Shirts und Kapuzenpullovern. Fein ausrasierte, dünne Jungenbärte, müde Gesichter unter hochgegelten Haaren. Wegners Boxer haben gelernt: Eine Predigt ist eine Predigt und keine Einladung zum Dialog. Sie sagen nichts, sie murmeln nur, sie bemühen sich, aufmerksam auszusehen, auch wenn der Trainer nichts Neues mitzuteilen hat. "Boxen", sagt Wegner, an diesem wie an jedem anderen Morgen, "Boxen ist Willen und nüscht anderes."

Hans-Ullrich Wegner, geboren 1942 in Stettin, war selbst Boxer, bevor er Trainer wurde, immer war es das Boxen, das seinem Leben eine Struktur gegeben hat. Boxen in der DDR war kein Gossensport wie das Profiboxen in der BRD, wo die Goldkettchenträger im Publikum saßen. Wer in der DDR Boxer war, gehörte zu einer Elite, die auf Reisen gehen durfte, um im Ausland die Überlegenheit des Systems zu beweisen. "Die Jungs damals hatten schon zu Hause gelernt, was Ordnung bedeutet", sagt Wegner.

Das ist der Unterschied: Früher trainierte er Amateure aus der Mittelschicht. Heute, bei den Profis, hat er welche vom Rand, Flüchtlinge oder irgendwie Gestrauchelte. Die Ansprüche an ihn als Trainer haben sich verschoben, aber Wegner versucht, ihnen gerecht zu werden mit Methoden, die ähnlich geblieben sind. Härte, so viel wie möglich. Nähe, so viel wie nötig. Einseifen, aufrichten, je nachdem. Er glaubt, dafür sind alle gleich empfänglich.

In seinem Büro hängt ein Poster von John Wayne: Wegner, dessen verbeulte Jeans von Hosenträgern gehalten wird, mag Seemannslieder und Western, vor allem mag er die Boxer, die in der Halle trainieren, aber das lässt er sich nicht anmerken. "Fragen Sie mal, wer von denen einen Beruf hat", sagt er, genauer gesagt keucht er es. Der Boxtrainer ist immer heiser, eine Folge der Brüllerei am Ring.

"Niemand. Kein Job, nix. Das sind Boxer, also sollen sie boxen. Wenigstens das sollen sie vernünftig hinkriegen."

Wer beim Boxstall Sauerland aufgenommen wird, kriegt ein Grundgehalt und eine gründliche Ausbildung. Was die Boxer daraus machen, ist von einem bestimmten Punkt an ihre Sache. Wenn sie sich an Wegners Vorgaben halten, können sie berühmt werden, einigermaßen reich sogar. Sie können aufsteigen. Wegner, der Ostdeutsche, verkauft längst kapitalistische Träume von einem erfüllten Leben.

Auf der nächsten Seite: Was Ulli Wegner sagt, wenn ein Boxer in Unterhose und Socken kommt.

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Die Tür fliegt auf, herein kommt Muamer Hukic, 25 Jahre alt, geboren in Serbien, 1993 geflohen nach Deutschland, großgeworden in Bielefeld, sozialer Wohnungsbau, Linksausleger, ehemaliger Kickboxer mit einem Körper wie aus Carrara-Marmor. Er hat seinen Namen eindeutschen lassen, er heißt längst Marco Huck. Huck ist inzwischen WBO-Weltmeister im Cruisergewicht, an diesem Samstag verteidigt er seinen Titel gegen den Briten Ola Afolabi, aber in Gegenwart von Wegner sehen auch Weltmeister wie kleine Jungs aus.

Der Boxer trägt Unterhose und Socken. "Kannst du dich nicht vernünftig anziehen, wenn du hier rein kommst", bellt Wegner, "sollen die Leute denken, das ist ein Affenstall hier?" Huck lächelt, er kennt die Stimme seines Trainers, er weiß, wann es ernst wird. Das hier ist noch nicht ernst. Er zieht die Socken hoch. "Is'n herzensguter Junge", sagt Wegner, "aber Disziplin, da is nüscht. Den muss man ganz streng führen." Huck will wissen, wann er da sein soll am nächsten Morgen, Wegner ruft: "Pünktlich, Junge, pünktlich", und Huck, der offenbar etwas vorhat an diesem Abend, was länger dauern könnte, merkt, dass da kein Raum ist für Verhandlungen.

"Ich will nicht sagen, ich bin ein großer Pädagoge, aber ich kann mich in die Psyche von Menschen hineinversetzen", sagt Wegner. Der Boxtrainer sagt zwar Tzüche, wenn er Psyche meint, aber er weiß, wovon er redet. Ein Boxtrainer wie er ist auch Sozialarbeiter und Erzieher. Wenn Marco Huck in den Ring klettert, schreien die Mädchen, und der Ringsprecher brüllt ins Mikro: "Here comes Captaaaain Hoooook!" Ulli Wegner sagt nicht Captain Hook zu ihm. Er nennt ihn Hucker.

Wegner hat den Ostdeutschen Markus Beyer und den Westdeutschen Sven Ottke zum Weltmeister gemacht, den Armenier Artur Abraham zum Weltmeister, zum Star. Natürlich ist das ein krummes Geschäft, Preisboxen, aber Wegner gibt dem Publikum das Gefühl, dass es halbwegs mit rechten Dingen zugeht.

Bei den Kämpfen seiner Boxer sind die Rundenpausen die wahren Ereignisse, weil das Publikum da sehen kann, wie der Trainer, väterlich und streng und ehrlich, seine Jungs auf Kurs zu halten versucht. Er brüllt oder flüstert. Er schaut in ängstliche, staunende, siegessichere Augen. Er streicht über Haare, greift in Münder, um den Zahnschutz rauszuholen. Er putzt Nasen, tupft Blut von Brauen. Er richtet die Boxer auf. Selten ist die Nähe zwischen Sportler und Coach so spürbar wie in den Rundenpausen, wenn Wegner bei der Arbeit ist.

Wenn es aussichtslos ist, kann er das Handtuch werfen, dann hat er seinen Mann erlöst. Aber Wegner hasst es, das Handtuch zu werfen. Seine Boxer haben das draußen alle oft genug getan, Ausbildung abgebrochen, Schule und Job geschmissen, Kinder gezeugt, die Frau sitzen lassen. Die Boxer, die bei ihm trainieren, sind Handtuchwerfer, da will ihr Trainer nicht auch einer sein.

Neben Wegners Büro steht ein Schrank, in dem jeder Boxer ein Fach hat für die Autogrammpost. Arthur Abrahams Fach quillt über, er ist der populärste Mann im Stall. Marco "Hucker" Huck hat seines gerade geleert, in dem von Cecilia Brækhus, der Weltergewichtlerin, steckt ein Versandhauskatalog. Vor jedem Fach steht ein Schokoladenweihnachtsmann, kleines Geschenk vom Boxstall. Nur der vor dem Fach von Marco Huck ist umgefallen.

Ulli Wegner verabschiedet sich, sein Händedruck ist kräftig, er lächelt mild. Dann geht er zurück in sein Büro, sieht unterwegs den umgefallenen Weihnachtsmann vor Huckers Fach, dreht ihn um, richtet ihn auf.

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