Australien:Ärger der Traditionalisten

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Unzufrieden mit dem Videobeweis: Der australische Trainer Bert van Marwijk (l.) will nach der Elfmeterentscheidung gegen sein Team mit Schiedsrichter Andres Cunha (r.) diskutieren. (Foto: Pavel Golovkin/AP)

Überraschend stark starten die Australier ins Turnier, doch nach der knappen Niederlage bleibt vor allem Frust: Trainer van Marwijk hadert mit dem ersten WM-Videobeweis und einer entscheidenden Situation kurz vor dem Siegtor der Franzosen.

Von Frank Hellmann, Kasan

Der offizielle Teil der Pressekonferenz war längst beendet, die Fernsehkameras in den Katakomben der Kasan-Arena bereits abgeschaltet, als Bert van Marwijk noch Mitteilungsbedarf verspürte. Das graue Sakko lässig über den Arm geschwungen, stellte der Nationaltrainer Australiens eine aus seiner Sicht spielentscheidende Szene noch für zwei niederländische Landsleute nach: Er holte mit dem Fuß weit aus und deutete einen imaginären Tritt an. "Das war volle Absicht und das muss eine rote Karte geben!" Damit meinte van Marwijk jene Sequenz, in der Corentin Tolisso nach 76 Minuten einen Konter von Tomi Juric stoppte. Ohne jede Aussicht, den Ball zu spielen.

In all der Aufregung um den ersten Videobeweis der WM-Geschichte war van Marwijk diese Schlüsselszene fast noch wichtiger. Seine These: "Dann schießen wir vielleicht sogar ein Tor und der Rest passiert nicht." Der Niederländer war schon in Bundesligazeiten als Trainer von Borussia Dortmund gerne mal unzufrieden mit den Leistungen der Schiedsrichter. Aber die Tatsache, dass sein Kollege Didier Deschamps unmittelbar danach den mit der gelben Karte davongekommenen Mittelfeldspieler vom FC Bayern auswechselte, war schon ein Zeichen für van Marwijks These: "Mir haben meine Spieler gesagt, dass umstehende Franzosen fest mit einem Platzverweis gerechnet haben." Überdies habe ihm sein einst als Spieler wenig zimperlicher Assistent und Schwiegersohn Mark van Bommel geflüstert: "Trainer, das war eine rote Karte."

Bislang war das noch junge Turnier ohne größere Schiedsrichterdebatten ausgekommen, doch der Außenseiter Australien äußerte an diesem Tag viel Unverständnis. Van Marwijk beklagte sich auch über den nachträglich verhängten Foulelfmeter, der erstmals bei einer WM aus einem fernen Kontrollraum zustande kam: Der Traditionalist hätte es natürlich am liebsten gehabt, wenn das Spiel nach der Grätsche des australischen Abwehrspielers Josh Risdon am Franzosen Antoine Griezmann weitergelaufen wäre. Doch dann erfolgte der Hinweis vom vierköpfigen Videoschiedsrichterteam um Mauro Vigliano (Argentinien), so dass Referee Andres Cunha (Uruguay) die Szene am Monitor überprüfte.

Van Marwijk beschlich ein ungutes Gefühl: "Als ich ihn da stehen gesehen habe, hat mir seine Körpersprache gezeigt, dass er unsicher war. Ich habe gehofft, dass es vielleicht mal einen ehrlichen Referee gibt, in dem Moment, wo er zum Bildschirm geht. Auf einmal sind 50 000 Menschen in seinem Rücken - und er muss eine Entscheidung treffen." Van Marwijks Urteil: "Er ist auch ein Mensch, jeder macht Fehler. Wir haben noch eine Menge über das VAR-System zu lernen."

"Wir Spieler können eine Szene auch nicht noch mal spielen", sagt Torwart Ryan

Gleichwohl war der historische Videoentscheid durchaus nachzuvollziehen, denn eine Berührung lag zweifelsohne nach dem Zeitlupenstudium vor. Van Marwijk räumte auch ein: "Von zehn Leuten sagen sieben, es war ein Elfmeter - drei werden sagen, es war kein Elfmeter." Seinem Torwart Mathew Ryan ging der Eingriff dennoch zu weit: "Wir Spieler können eine Szene auch nicht zurückholen und noch mal spielen - so gerne wir das tun würden."

Der Torwart vom englischen Premier-League-Klub Brighton and Hove Albion outete sich als klassischer Gegner der technischen Hilfsmittel, die per Torlinientechnologie ja auch das 2:1 von Paul Pogba (81.) angezeigt hatten, was eine richtige Entscheidung war. Unstrittig bleibt allerdings auch, dass die Australier nicht nur mit guter Organisation, sondern auch einer starken Physis beim WM-Start beeindruckten. Kaum irgendwo taten sich für die französischen Offensivkünstler Lücken auf.

"Sie wussten nicht, was sie tun sollten", sagte van Marwijk. Irgendwie nur folgerichtig, dass auf den Griezmann-Strafstoß zum 1:0 (58.) gleich der Ausgleich durch einen von Mile Jedinak sicher verwandelten Handelfmeter folgte (62.), nachdem Samuel Umtiti kurzerhand die Sportart wechselte und wie ein Volleyballer zu einer Flanke hechtete.

Ein Remis wäre nach dem Spielverlauf gar nicht einmal ungerecht gewesen. "So haben wir nichts. Aber ich kann niemandem etwas ankreiden, sondern muss den Spielern gratulieren. Wir gehen mit mehr Selbstbewusstsein in die nächsten Spiele", erklärte van Marwijk. Selbst Frankreichs zum "Man of the match" gekürter Torschütze Griezmann empfahl den Australiern, den Kopf schnell wieder hoch zu nehmen: "Sie waren taktisch sehr gut organisiert. Das wird eine Herausforderung für Peru und Dänemark." Einer der neuerdings am besten verdienenden Spieler der spanischen Liga schien heilfroh, diese Hürde hinter sich zu haben.

© SZ vom 17.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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