Mein Deutschland:9. Mai - der Tag des Sieges

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Jener Krieg, dieses großes Gefecht um unser Vaterland, er existiert für die neue Generation von Russen nicht mehr.

Andrey Kobyakov

Es war vor sieben Jahren am malerischen Wolga-Ufer in der Nähe von meiner Heimatstadt Kasan. Eine Gruppe von Journalisten traf sich in einem Sommerlager mit Kindern und Jugendlichen.

Proben für die Militärparade zum Tag des Sieges am 9. Mai (Foto: Foto: dpa)

Wir sollten über unseren Beruf erzählen, über lustige Geschichten, über unsere Auslandsreisen. Ein kleiner Junge bat mich, etwas auf Deutsch zu sagen. "Hände hoch!", antwortete ich blitzschnell im Scherz. Doch warum brachen er und seine Freunde nicht in großes Gelächter aus?

Jeder Russe, der nach dem Zweiten Weltkrieg geboren ist, kennt diese deutschen Worte, in meiner Kindheit war unsere Lieblingsbeschäftigung Krieg spielen. Wie selbstverständlich schrien wir "Hände hoch!", "Nicht schießen!", "Halt, zurück!" und "Feuer!". Okay, das ist lange her - aber so lange nun auch nicht.

"Was bedeutet das auf Russisch, Hände hoch?", fragte mich nun der Junge, allen Ernstes. Spätestens seitdem weiß ich: Jener Krieg, dieses großes Gefecht um unser Vaterland, er existiert für die neue Generation von Russen nicht mehr.

Natürlich lernen sie heute Geschichte in der Schule, sie hören von Großvätern noch ein paar Anekdoten, sie sehen historische Filme. Doch die patriotische Paranoia ist weg, verschwunden.

Deutschland, das ist im Bewusstsein der jungen Russen nicht mehr der zerstörte Reichstag und ein umgeknicktes Hakenkreuz.

Deutschland, das ist Mercedes und Bundesliga. Der Bewusstseinswandel ist unumkehrbar, trotz aller Versuche auch heutiger Politiker, den Sieg der Sowjetunion im Großen Vaterländischen Krieg zu instrumentalisieren. Der Stolz der Menschen mag bleiben, auch der heilige Glanz der Feierlichkeiten. Doch die Paraden berühren heute mehr das Hirn der Russen als ihr Herz.

Der 9. Mai, der Tag des Sieges, bleibt Umfragen zufolge nach Neujahr der beliebteste Feiertag. Und doch fällt auf, dass die Kenntnisse der Russen über den Zweiten Weltkrieg zu wünschen übrig lassen. Nur ein Viertel der Befragten weiß, dass der Krieg nicht 1941, sondern 1939 begann.

Manche nennen als Gegner der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg Polen, andere die Ukraine oder gar Österreich-Ungarn. Nur die Hälfte kennt Stalin als den Obersten Befehlshaber der Roten Armee. Deutschland ist anders, sicher. Man kann es nicht mit Russland vergleichen.

Der 7. Mai ist eben ein Tag der Kapitulation, nicht ein Tag des Sieges wie unser 9.Mai. Dennoch ist den Deutschen zu wünschen, dass auch ihre Wahrnehmung der 65 Jahre währenden Vergangenheit sich ändert. Ihre Gefühle sollten zu Gedanken werden, und sie sollten ohne masochistische Selbstgeißelung zurückblicken.

Seit langem leben hier immer mehr Menschen, die für die tragischen Kapiteln der Geschichte ihrer Heimat keine Verantwortung tragen.

An dieser Stelle schreiben Auslandskorrespondenten über Deutschland. Andrey Kobyakov arbeitet in der russischen Redaktion der Deutschen Welle in Bonn.

© SZ vom 07.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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