Tschechien:Kuss in Brno

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16 Theater, moderne Architektur: Trotzdem stand Brünn lange im Schatten von Prag. Das ist vorbei.

Von Christine Dössel

Eigentlich will der Witwer Lukáš von seiner Zukünftigen nur einen Kuss. Doch die starrköpfige Vendulka lehnt jegliches Geknutsche vor der Hochzeit ab. Der Zoff, der daraus entsteht, ist große Oper: Mit "Hubička / Der Kuss" komponierte Bedřich Smetana ein sattes Musikdrama, in dem es tatsächlich nur um die Verweigerung desselben geht. Inhaltlich ist das viel Lärm um nichts, musikalisch aber ein Feuerwerk tschechischer Musik: Zündende Duette, Terzette, Tänze und Folkloristisches verbinden sich zu einer heiter-romantischen Volksoper mit Schmugglerszenen im böhmischen Wald. Bei der Uraufführung 1876 in Prag war "Der Kuss" ein riesiger Erfolg.

Heute steht das Werk nur noch selten auf den Spielplänen, die meisten Häuser spielen lieber "Die verkaufte Braut" oder "Zwei Witwen". Dass es den "Kuss" seit letzter Spielzeit in einer Neuinszenierung in Brünn zu sehen gibt, ist selbst in Smetanas Heimat Tschechien eine Rarität. Aber seit am Nationaltheater Brünn zwei Freunde angetreten sind, das Dreispartenhaus aufzumischen - es ist die zweitgrößte Bühne der Tschechischen Republik -, findet sich manch Überraschendes, darunter auch Zeitgenössisches im ambitionierten Programm. Generalintendant Martin Glaser und sein Operndirektor Jiří Heřman, zwei smarte Tschechen Anfang vierzig, legen großen Wert darauf, explizit das tschechische Opernrepertoire zu pflegen und neu zu beleben. Smetana, Dvořák, Janáček.

Vor dem Janáček-Theater sammeln die wartenden Busse nach der Vorstellung die auswärtigen Zuschauer ein. 40 Prozent des Publikums, sagt Martin Glaser, kommen aus der Region. Es reisten sogar Besucher aus Österreich an. Von Wien nach Brünn sind es nicht einmal zwei Stunden.

Brünn besitzt 16 Theater und ist mit knapp 400 000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt der Tschechischen Republik, einst bekannt für ihre Textil- und Maschinenbauindustrie, vom "mährischen Manchester" sprach man um die Jahrhundertwende. Damals gehörte Brünn zur Habsburger-Monarchie. Es ist eine Stadt mit viel Kultur und interessanter Architektur, die Altstadt vom Bombenkrieg unverschont und schön renoviert, das Bier ein Erlebnis, das Essen so schmackhaft wie sündhaft deftig; dazu Bars, Klubs, Cafés und mehrere Universitäten. Aber Brünn hat ein Problem: Schon immer steht die Stadt im Schatten von Prag. Sie ist die ewige Zweite, verspottet als "die letzte bewohnte Kurve vor Wien" oder das "größte Dorf des wilden Ostens".

Die Touristen begeben sich in der Regel direkt nach Prag und lassen das kleinere Brünn südöstlich liegen. Manche machen allenfalls einen kurzen Abstecher, um das historische Zentrum zu besichtigen: das Alte Rathaus aus dem 13. Jahrhundert, wo im Durchgang der Brünner Drache hängt, das Symbol der Stadt; den Krautmarkt mit seinen bunten Ständen und dem verzierten Barockbrunnen in der Mitte; die alles überragende Kathedrale Peter und Paul auf dem Hügel Petrov und zu ihren Füßen die Denis-Parkanlagen mit einem zauberhaften Ausblick; dann kurz noch rauf auf die Burg Špilberk - einst der berüchtigtste Kerker der Habsburger Monarchie; abschließend das obligatorische Gulasch oder eine Ente mit Serviettenknödeln in einer der rustikalen Wirtschaften wie dem "Stopkova pivnice" oder dem "Spalicek", und schon geht's weiter Richtung Prag.

Halt! Wer so reist, versäumt einiges. Abgesehen von der vielfältigen Theaterlandschaft ist Brünn eine der Hauptstädte der funktionalistischen Architektur. Das bekannteste Beispiel ist die Villa Tugendhat im Stadtteil Schwarzfeld, der weltberühmte Bau von Ludwig Mies van der Rohe aus den Dreißigerjahren: ein Wohnhaus mit einzigartigem Raumkonzept, erbaut für das deutsch-jüdische Unternehmerpaar Fritz und Grete Tugendhat, die Eltern des Philosophen Ernst Tugendhat. Seit 2001 steht es auf der Liste des Unesco-Weltkulturerbes. 1993 wurde in der Villa die tschechische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet.

Brünn, die ewig Randständige, hat erst in jüngerer Zeit begonnen, mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln und seine besonderen Merkmale touristisch besser zu vermarkten. Die funktionalistische Architektur ist da ein wichtiger Punkt. Nach 1918, als Brünn nicht mehr zur k. u. k. Monarchie gehörte, sondern unter dem Namen Brno zum neuen tschechoslowakischen Staat, setzte in der Stadt ein regelrechter Bauboom ein. In der Zwischenkriegszeit bis 1945 entstanden Hunderte Gebäude - Schulen, Kaufhäuser, Kliniken, das Bahnhofspostamt, das Messegelände - im neuen funktionalistischen Stil: schlicht und zweckgebunden, aber doch mit künstlerischem (und oft auch ökologischem) Anspruch. Klare Linien, Verzicht auf Ornament und Dekor: "Form follows function" hieß die Devise, umgesetzt in Bauten wie dem schmalen Hotel Avion in der Fußgängerzone oder in so luftig-originell gestalteten Kaffeehäusern wie dem Café Era, dem Zeman Café, dem Café Savoy.

SZ-Karte: Mainka (Foto: N/A)

Interessant ist auch die Villa Stiassny im vornehmen Viertel Masaryk, zwei strenge, lindgrüne Riegel auf weitläufigem Gelände und innen auf Wunsch von Frau Stiassny ganz unmodern mit Kassettendecken, Marmorkaminen und Salonmöbeln ausgestattet. Erbaut wurde die Villa zwischen 1927 und 1929 vom Architekten Ernst Wiesner für den Textilfabrikanten Alfred Stiassny und dessen Frau. Ernst Wiesner war der erste modernistische Architekt in Brünn. Bis zu seiner Emigration 1939 prägte er das Stadtbild mit seinen puristischen Gebäuden, vom Krematorium bis hin zur Mährischen Landesversicherungsanstalt, die selbst Le Corbusier beeindruckte.

Die berühmtesten Persönlichkeiten Brünns sind jedoch keine Architekten, sondern Gregor Johann Mendel, der "Vater der Genetik" (1822 - 1884), und der Komponist Leoš Janáček (1854 - 1928). Beide kamen mit elf Jahren in die Stadt und sind heute auf dem Zentralfriedhof beerdigt.

Janáček, Direktor der Brünner Orgelschule und Professor am Konservatorium, kam als Komponist erst im höheren Alter zu Ruhm. Seine bekannten Opern wurden alle in Brünn uraufgeführt, darunter "Jenufa" (1904), "Katja Kabanowa" (1921) und "Die Sache Makropulos" (1926). Das heutige Janáček-Theater, in dem das Nationaltheater Brünn seine Opern- und Ballettaufführungen zeigt, wurde erst zwischen 1960 und 1965 erbaut: ein Haus im funktionalistisch-klassizistischen Stil, konzipiert als Logentheater, die Wände edelholzvertäfelt. Wenn das Nationaltheater jetzt im Oktober zum fünften Mal das Janáček-Brno-Festival ausrichtet wird es mal wieder "Katja Kabanowa" geben - neben 23 weiteren Klassikproduktionen an zwölf Tagen.

Die anderen beiden Bühnen, die zum Nationaltheater gehören, sind das Reduta- und das Mahen-Theater. Das mehrmals ausgebrannte Reduta begann seine Theaterkarriere um das Jahr 1600 als Taverne. Seit 2005 wird das Haus, das nach 1989 als Markthalle genutzt wurde, als modernes, rundum erneuertes Theater für kleinere Produktionen wieder bespielt.

Die schönste Spielstätte des Nationaltheaters ist das mit Skulpturen und goldenem Stuck verzierte Mahen-Theater, ein Bau von 1882, nach einem Entwurf der Wiener Architekten Fellner & Helmer. Bevor es das Janáček-Theater gab, war hier seit 1918 die Oper beheimatet. Jetzt gibt es im Mahen Schauspielklassiker und Zeitgenössisches von tschechischen Autoren.

Intendant Martin Glaser, seit 2013 im Amt, findet Brünn "ideal", um Theater zu machen: top ausgestattete Häuser mit Seitenbühnen und eigenen Proberäumen, großartige Musiker, viele Studenten, ein kulturaffines Publikum. Als er im Januar 2015 seinen Freund Jiří Heřman als Opernchef holte, sagte er zu ihm: "Komm, lass uns hier das Theater unserer Träume machen!" Heřman ließ sich nicht zweimal bitten. Er sagt: "Hier kannst du Sachen machen, die in Prag nicht gehen." Nicht nur hält er in Prag das Repertoire für angepasster. Prag sei einfach auch "zu touristisch".

© SZ vom 22.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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