Schweiz:Zwielicht im Bergell

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Alberto Giacometti liebte die winterlichen Grautöne seiner Heimat. Das Tal kann man jetzt, ein halbes Jahrhundert nach dem Tod des Künstlers, auf dessen Spuren entdecken.

Von Werner Bloch

In dieses Tal reist man nicht sanft - man stürzt hinein. Sechs klappmesserartige Serpentinen führen in die Schlucht, von einer Welt in die andere, von der Schweiz nach Italien, von St. Moritz bis nach Chiavenna - ein schwindelerregender Abstieg, ein rund 20 Kilometer langer Transit der Landschaften und Kulturen, wie man ihn in Europa selten findet. Und mittendrin: das Bergell, ein natürlicher Querschnitt durch die Südalpen, vom Hochgebirge bis in den subtropischen Süden. Ein längliches, dünn besiedeltes Tal, eingeklemmt zwischen Dreitausendern. Im Sommer strahlt es, im Winter kommt vier Monate lang keine Sonne ins Tal. Ein Mikrokosmos zwischen leuchtenden Farben und monochromer Beständigkeit. Und, vielleicht auch deshalb, die Heimat einer der bedeutendsten Malerfamilien der Moderne.

"Da oben am Wald, hinter dem Holzschober", ruft Marco Giacometti und stapft noch etwas schneller, "das ist unsere nächste Station." Marco Giacometti, 58 Jahre alt, war mal Tiermediziner, jetzt widmet er sich seiner Passion: der Kunst. Er ist weitläufig verwandt mit Alberto Giacometti, und er will das Erbe seines großen Vorfahren bewahren, seine Spuren im Tal freilegen - und so der Welt eine neue Sicht auf einen der bedeutendsten Künstler der Moderne ermöglichen.

Der Schweizer Alberto Giacometti lebte von 1922 bis zu seinem Tod 1966 hauptsächlich in Paris. Er war mit Sartre, Breton und Picasso befreundet. Seine Werke erzielen heute Rekordpreise. Doch Paris war nur ein Teil seiner Biografie. "Er führte ein Doppelleben. Sicher, 40 Jahre lang hat er dort gewohnt, doch sein Werk hat seinen Ursprung im Bergell", sagt Marco Giacometti. Hier wurde er geboren. "Hier in Stampa hat alles begonnen. Hier hatte Alberto seine Wurzeln. Diese Landschaft hat ihn beeinflusst, sein Leben lang. Deshalb ist er ja auch jedes Jahr aufs Neue wieder hierher zurückgekehrt, um seine Familie zu besuchen und um hier zu arbeiten."

Berghänge mit ockerfarbenen Wiesen, moosbewachsenes Geröll, Felsen, die wie zerbrochene Marmorstücke in der Gegend herumliegen - hier war Giacometti zu Hause. Marco Giacometti will hier nun ein Besucherzentrum errichten, das "Centro Giacometti", eine dezentrale, über das Tal verstreute Erinnerungslandschaft. Einen "Interpretationsort", wie er es nennt.

Eine Höhle, in der er sich als Kind versteckte, beeinflusste später seine Werke

Eine zentrale Rolle in diesem Universum spielt eine Höhle, rund 800 Meter oberhalb von Stampa. Marco Giacometti hat ein Buch dabei, "Gestern, Flugsand", in dem Alberto die Höhle beschreibt: "Es war ein Monolith, der sich unten zu einer Höhle öffnete. Der Eingang war niedrig und lang gezogen, knapp so hoch wie wir damals ... Meine größte Freude aber war es, mich in die hintere kleine Höhle zu kauern; ich hatte kaum Platz darin, doch alle meine Wünsche wurden erfüllt."

Diese Höhle, für das Kind Giacometti war sie Rückzugsort und Abenteuerspielplatz. Doch sie habe auch den Künstler beeinflusst, betont Marco Giacometti: Ihre schrundige, kantige Oberfläche spiegelt sich in zahlreichen Werken. Mit einem kleinen, silbernen Messer trug Giacometti Schicht um Schicht auf seine Plastiken auf. "Die Oberfläche seiner Figuren ist niemals glatt reflektierend. Sie ist aufgeworfen, amorph, sie scheint das Licht zu verschlucken", so beschreibt es Philippe Büttner, der Giacometti-Experte im Kunsthaus Zürich. Die Haut seiner Skulpturen ist ebenso rau und düster wie die Höhle in Stampa.

Je enger das Tal, desto tiefer die Wurzeln, sagt man im Bergell.

Giacometti ohne das Bergell? Kaum vorstellbar. So avantgardistisch seine Kunst daherkommt, so revolutionär seine Bildhauerei mit ihren zarten, manchmal nur sieben Zentimeter hohen Figuren voranschreitet - sie bleibt tief verwurzelt in diesem Tal mit seinen dramatischen Vegetations- und Klimastufen.

Zwischen dem Malojapass und Chiavenna stürzt die Landschaft ab, von 1815 auf 333 Höhenmeter, vom grauen, teils eisbedeckten Hochgebirge zum Licht des Südens. Das Bergell verbindet alpine Kargheit mit mediterraner Üppigkeit, das Graubündnerische mit dem Italienischen. "Wo Finnland und Italien zusammenkommen", hat Friedrich Nietzsche einmal über Sils-Maria geschrieben. Und Sils-Maria ist nur ein paar Kilometer weg.

(Foto: sz)

Wir gehen zum Lärchenwald oberhalb von Borgonovo, dem Geburtsort Giacomettis. Ihm erschienen die Bäume als eine feindliche Armee stehender Frauen, als etwas Bedrohliches. Doch der Künstler, der ein schwieriges Verhältnis zu Frauen hatte, verwandelte diese Begegnung in Kunst. In seinem Atelier machte er daraus eine Gruppenplastik - wie durch Zauber erstarrte Figuren, als Exorzismus gegen die Angst.

Das Atelier, in dem er im Bergell gearbeitet hat - es ist nun zum ersten Mal zugänglich. Die väterliche Werkstatt in Stampa war sein Lieblingsort. "So lange ich zurückdenken kann", schreibt er, "gab es für mich kein größeres Vergnügen, als in meiner Ecke beim Fenster des Ateliers zu sitzen, um Bücher anzuschauen und zu zeichnen." Alberto war mit dem Geruch von Farbe, Leinwand und Terpentin aufgewachsen, auf den Knien seines Vaters Giovanni, der selbst ein großer Maler war.

Jetzt, ein halbes Jahrhundert nach Alberto Giacomettis Tod, führt der Nachfahre ins Atelierhaus. Eine eher unspektakuläre Mischung aus umgebautem Viehstall und Scheune. In der Ecke steht noch das Bett, auf dem sich der Maler ausruhte. Auf der Kommode gammeln noch ein paar uralte Tuben. Daneben eine Palette mit staubtrockener Farbe. Der Dielenboden ist übersät mit Spuren ausgedrückter Gauloises wie kleinen braunen Brandwunden. Giacometti hatte die Angewohnheit, die brennenden Stummel und Streichhölzer achtlos auf den Boden zu werfen.

Im Herbst rösten sie hier Kastanien. Vom Künstler sprechen sie kaum

"Im Bergell war Alberto viel gelassener als in Paris", sagt Marco Giacometti. Der Künstler liebte das Grau, die Farbe des Bergells, der Steinhalden, Steintische, Steindächer. Grau, braun und schwarz waren seine bevorzugten Tönungen. Für farbenprächtige Alpenlyrik hatte er nichts übrig. Vielleicht zog er deshalb den Winter dem Sommer vor. Man trifft in Stampa noch ein paar Menschen, die ihn gekannt haben. Laura Semadeni zum Beispiel. Die 77-Jährige ist eine Cousine Giacomettis. "Alberto war intelligent und menschenfreundlich. Er trug seine Berühmtheit nicht vor sich her. Er kam mit allen klar", erzählt die Signora mit sanftem Schweizer Singsang, dann kramt sie ein Familienalbum hervor. "Am liebsten kam Alberto im Herbst und im Winter nach Hause, wenn die Sonne es nicht mehr über die Berggipfel schafft und das Tal im Dunkel versinkt. Er liebte den Schatten, aber er suchte das Licht."

Im Winter taucht das Bergell vier Monate lang in eine Schattenexistenz ab. Sonnenstrahlen fallen dann nur auf die weiße Felswand des Piz Duan, alles andere bleibt in der Schwebe zwischen hell und dunkel, in einem eigentümlichen Licht. Im Herbst werden die Kastanien geröstet, aus jedem Schuppen im Tal dringt dann würziger Duft. Der örtliche Tourismusverein veranstaltet im Oktober ein "Kastanienfestival". Von Alberto Giacometti aber spricht kaum jemand. Und der Tourismusverband hat sich bisher keine große Mühe gegeben, ihn zu vermarkten. Bis vor Kurzem gab es nicht einmal ein Werbeprospekt mit dem weltberühmten Künstler als Zugpferd.

Und die Touristen? Sie kommen fast nur während der Sommermonate. Dabei ist es nur eine halbe Stunde im Postauto vom mondänen St. Moritz. Kaum jemand weiß vom Bergell und seiner unverbrauchten Schönheit, das doch im Überfluss und ganz natürlich besitzt, was andernorts als "Authentizität" verkauft wird.

Okay, es gibt kaum Pensionen und nur wenige Hotels im Bergell. Eines ist das Pranzaira, es liegt gleich hinter dem Malojapass und hat rustikalen Zwei-Sterne-Charme. Von hier aus kann man fast direkt in den spektakulären Panorama-Höhenweg einsteigen, der bis nach Soglio führt. Und der Wirt ist überaus freundlich: Er bietet den Gästen sogar gratis sein Auto an, damit sie eine Spritztour ins Tal machen können. Zum Beispiel nach Soglio. Wie ein Schwalbennest klammert sich das Dorf an den Fels, eine einzige natürliche Sonnenterrasse. Rilke wohnte hier im Palazzo Salis, einem der stattlichen Adelsquartiere, noch heute kann man sich im Rilke-Zimmer einmieten. Doch der kauzige Poet aus Prag moserte, "dass ab und zu ein Touristenschwarm sich über diese Verzaubertheit blindlings niederlässt, aber dann hat man immer die Zuflucht zu den alterthümlichen Zimmern oder die Wege in die Herrlichkeit des Kastanienwaldes".

Im Museum hängen seine Werke zwischen Fuchspelzen und ausgestopften Vögeln

"Wer das Bergell nicht gesehen hat, hat nichts von Giacometti verstanden", sagt Marco Giacometti. Doch selbst viele von denen, die hier aufgewachsen sind, haben keine Ahnung vom weltberühmten Künstler. "Die Dorfbewohner haben mit ihm gegessen und gefeiert, aber er war für sie ein Exot. Sie müssen sein Werk erst kennenlernen." Das aber ist nicht ganz so einfach, wie es klingt. Denn das Bergell ist zwar eine Kulturlandschaft, aber Kunstwerke gibt es hier keine zu sehen. Die sind bei Sammlern oder in Museen über die ganze Welt verstreut. Und unerschwinglich.

"Die Kunstwerke können Sie doch genauso gut woanders anschauen, in Paris oder Zürich oder auch in New York", sagt Marco Giacometti. "Ich will, dass man Giacometti hier in seinem Umfeld begreift, in seinen Seelenlandschaften. Dass man ihn emotional und intellektuell erspürt." Dafür hat Marco Giacometti einen "Art Walk" geschaffen, zu verschiedenen Orten von Albertos Biografie. Man wandert, geführt vom Smartphone, zu den Originalschauplätzen, manchmal werden kleine Filme eingespielt. Es gibt einen "Photo Walk" mit großartigen Fotografien und ein grandioses Fotobuch.

Marco Giacometti möchte sein "Centro Giacometti", dessen Präsident er ist, nun ausbauen. Es soll an bestimmten Orten im Tal Wissen über die Malerfamilie verbreiten. Doch nicht alle Mitglieder des Gemeinderats sind für das Projekt, das 15 Millionen Franken kosten könnte. Vom Schweizer Kulturministerium ist keine Unterstützung zu erwarten. Und auch die Leiterin der Ciäsa Granda, Bruna Ruinelli, sagt: "Wir brauchen hier nicht mehr Giacometti, wir sollten lieber von dem ausgehen, was wir bereits haben." Tatsächlich hängen in diesem enzyklopädischen Heimat- und Regionalmuseum in Stampa zwischen Fuchspelzen und ausgestopften Vögeln ein paar Zeichnungen von Alberto. Unten, im kellerartigen Luftschutzraum, versteckt sich unter allerlei Krimskrams die Plastik eines knienden Mannes. Sie ist das letzte Werk, das Alberto schuf, und sie stand auf seinem Grab, als er am 15. Januar 1966 auf dem Friedhof von Borgonovo begraben wurde. Diese Skulptur ist das einzige große Werk von Giacometti, das man im Bergell sehen kann.

© SZ vom 03.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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