Russland:Geheimnis des Feuerwassers

Die Vulkaninseln der Kurilen im Pazifik waren lange Zeit tabu. Jetzt dürfen Expeditions-Kreuzfahrter die unberechenbare Natur erkunden.

Von Sven Weniger

Andrej Petrow hebt die Hand wie zum Schwur: "Er raucht, ganz bestimmt!" Gerne will man es ihm glauben, zu sehen ist aber nichts. Nur Schneetreiben und ein Sturm, der unsere kleine Wandertruppe fast von den Füßen holt. Der Russe brüllt etwas in sein Walkie-Talkie und bricht den Aufstieg zum Alaid ab. Als alle zurück am Schiff sind, gibt es Tee und Suppe zum Auftauen. "Habt ihr ihn gesehen", fragen die anderen an Bord. "Njet, nicht mal den Kegel, so ein Pech", sagt Petrow. Wohl wahr, denn der Alaid gilt als der perfekt geformte Vulkan, so makellos, dass er der Legende nach von seinen neidischen Nachbarn aus Kamtschatka hierher verbannt wurde, auf die Kurileninsel Atlassow, wo er nun umso eindrucksvoller aus dem Meer aufsteigt.

Kurilen

Mit dem Zodiac zum Naturschauspiel: Vor der Insel Chirpoi fließt Lava in den Pazifik. Die Küstenlinie verschiebt sich in wenigen Tagen um 400 Meter.

(Foto: Sven Weniger)

Die Konkurrenz ist groß. 300 Vulkane hat allein die Halbinsel im Norden. Hundert, darunter 40 aktive und noch einmal Dutzende unter Wasser, gibt es auf der 1200 Kilometer langen Inselkette südlich davon; eine schmale, vom Wasser unterbrochene Landbrücke zwischen Russland und Japan. Doch keiner kommt dem Alaid gleich. Mit 2339 Metern ist er der höchste Berg der Kurilen. Wie ein Raubtier lässt der Kapitän die Motoryacht L'Austral den Vulkan umkreisen, doch die Beute hält sich bedeckt. Dann gibt er auf und ankert unser Schiff vor der Nachbarinsel Schumschu. Keine Sicht, morgen ist auch noch ein Tag.

Informationen

Reisearrangement: Die französische Reederei Ponant veranstaltet einmal im Jahr eine Expeditions-Kreuzfahrt zu den Kurilen, eine weitere geht nach Kamtschatka. Die nächste Kurilen-Reise findet vom 29. September bis 14. Oktober statt. Die Kreuzfahrt beginnt in Petropawlowsk in Russland und endet in Kanazawa in Japan. 16 Tage kosten ab 8000 Euro pro Person in der Standardkabine, inklusive Flug. Buchungen über Ponant Betriebsstätte Deutschland, Neuer Wall 63, 20354 Hamburg, Tel.: 040/808 09 31 43, www.ponant.com

Kamtschatka und die Kurilen gehören zum Pazifischen Feuerring, einem von Ausbrüchen und Erdbeben gekennzeichneten Bogen, der den Pazifik von Südamerika bis Australien umspannt. Immer wieder führt die Plattentektonik der nördlichen Hemisphäre zu Eruptionen und Tsunamis, die gewaltigen Schaden anrichten können, aber auch ungeheure Naturschauspiele bieten. Wer die Kurilen googelt, findet kaum etwas Aktuelles zum Archipel, er ist einer der unzugänglichsten der Erde. Historisch hingegen ist er von großer Bedeutung. Die Kurilen waren Russlands Guadalcanal. Hier entschied sich für die Sowjetunion der Zweite Weltkrieg gegen Japan, so wie die USA auf der Pazifikinsel die militärische Entscheidung gegen den gemeinsamen Feind suchten. Noch immer streiten sich Japan und Russland um die Grenzziehung; bis auf wenige Inseln im äußersten Süden gehören die Kurilen heute zu Wladimir Putins Reich. Und vermutlich mehr denn je gelten sie ihm als natürlicher Sperrriegel gegen den Westen. Denn sie blockieren das Ochotskische Meer und Sachalin. Dort ist die Pazifikflotte Russlands stationiert. Lange war es unmöglich, die nur spärlich bewohnten Inseln zu besuchen und so einen Blick auf deren Geschichte und die sich selbst überlassene Natur zu werfen. Da kaum Daten vorliegen, gelten die Kurilen auch der Wissenschaft als "vergessene Inseln". Expeditionskreuzfahrten sind heute die einzige Möglichkeit, sie zu erleben. Ein russischer Offizieller muss immer an Bord sein. Andrej Petrow ist Führer, Lotse und Aufpasser für 150 Passagiere der Reederei Ponant. Die meisten kommen aus Frankreich und Deutschland.

Russland: SZ-Karte

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Schumschu ist ein Schrottplatz. Wie erstarrt seit 1945, denn Metall liegt auf dem Plateau der flachsten Kurileninsel verteilt. Rostige Kanonen, Panzerwracks, schrundige Ketten, verfallene Hangars; Reste einer Landebahn, vom üppigen Gras überwuchert, das sich im Wind neigt. Nur die zerlöcherten Aluminiumhüllen der abgeschossenen Kampfflugzeuge blitzen wie bizarre Skulpturen in der strahlenden Sonne.

Ein Polarfuchs ist der Star des Tages. Er hat keine Scheu, weil er keine Menschen kennt

Sturm und Schnee sind am nächsten Morgen verflogen. In einer menschenleeren Idylle stromern wir umher inmitten der Relikte militärischen Wahns, wie in einem seltsamen Museum. Es gibt Baracken, die 1990 verlassen wurden, wie sie waren. Alte Röhrenfernseher gammeln dort in den Plattenbauten, Latrinen, Stockbetten, Gasmasken, an die Wände gepinselte Blumenwiesen als Erinnerung an das Heimweh der Soldaten. Lenin grüßt von der Wand des Gemeinschaftssaals mit erhobener Faust. "Die sozialistische Heimat zu verteidigen ist die Pflicht jedes Bürgers der UdSSR", steht daneben. Draußen reckt sich der rote Stern des Kommunismus einsam auf einer Stele in den Himmel. Dahinter der Alaid jenseits der Meerenge, in der unser Kreuzfahrtschiff ankert. Kein Rauch steigt mehr aus dem Vulkan, Andrej Petrow versteht die Welt nicht mehr. Stattdessen dampft es aus einem Schiffswrack am Ufer. Ein Fischer hat sich dort eingerichtet, das Teewasser kocht. Einsiedler und ein paar Familien leben auf wenigen der etwa 30 Hauptinseln der Kurilen.

Hinweis der Redaktion

Die Recherchereisen für diese Ausgabe wurden zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und/oder Tourismus-Agenturen.

In den Schlauchbooten, die die Passagiere der L'Austral für Landgänge und Erkundungsfahrten nutzen, geht es auf einem der namenlosen Flussläufe zurück in die Gegenwart.

Ein kleiner Polarfuchs ist der Star des Tages. Während sich seine Artgenossen im Trab verziehen, bleibt er am Ufer sitzen und lässt sich seelenruhig ablichten. Aschgrau wie die Lavabrocken um ihn herum ist sein Fell. Er kennt keine Scheu, hat keine Angst vor Menschen. Wahrscheinlich sind ihm bislang kaum welche begegnet. Uschischir, seine Insel, sieht wie ein Atoll aus, ein paar Fußballfelder groß, der Krater eines Unterwasser-Vulkans, dessen letzte Meter aus dem Meer ragen. Uschischir hat eine eigene Schwefelquelle, deren Dämpfe sich in den tief hängenden Wolken auflösen, eine verfallene Holzhütte und sehr viele Seevögel, die in domhohen Grotten nisten. Ein Ort, wie von Saint-Exupéry erfunden.

Der Fuchs blickt hinüber zu den Kreuzfahrtpassagieren. Diese legen nun die Polarjacken ab und ziehen ihr Badezeug an, um in das heiße Wasser einzutauchen, das aus dem Boden blubbert. Hinein in die Hitze, die der Erdkruste entweicht.

Niemand auf der L'Austral, die ein eigenes Team aus Wissenschafts-Guides an Bord hat, kann erklären, warum auf einem der täglichen Zodiac-Ausflüge auf einmal Tausende Lummen über den Schlauchbooten kreisen. Die Guides kennen die große Seelöwenkolonie auf Onekotan, wissen, in welcher Bucht die Seeotter spielen, wo ihre Passagiere die Papageientaucher am besten beobachten können. Warum die Tiere an den Orten sind, an denen wir sie antreffen, ist dagegen immer noch ein Rätsel.

Hier und dort haben die Behörden Überwachungskameras installiert. Petrow weist stets darauf hin. Ob sie dem Schutz der Tiere dienen oder dem der russischen Föderation - wer weiß. Das Überraschende, das Unvorhergesehene wird zur Essenz der Kurilen-Reise. Kaum ein Tagesplan, der nicht über den Haufen geworfen wird, weil irgendwo gerade etwas Unerwartetes passiert. Die Passion, mit welcher der Kapitän auf das Auftauchen von Orcas und Buckelwalen reagiert, denen wir über Stunden folgen, berührt auch diejenigen Passagiere, die bei Kreuzfahrten vor allem auf eine geregelte Reiseroute und ebensolche Essenszeiten Wert legen. Die Klimabedingungen, die zwischen Norden und Süden der Kurilen Landschaften von karger Tundra bis zu dichten Nadelwäldern geschaffen haben, die rasante Wetterwechsel begünstigen, machen auch diese luxuriöse Reise noch zu einem Abenteuer.

Da kommt es wie bestellt, dass uns Satellitenbilder eine Lavaeruption ankündigen. Auf der Insel Chirpoi in der Südhälfte der Kurilen ist der Vulkan ausgebrochen, er drückt glühendes Gestein in den Pazifik. In wenigen Tagen hat sich die Küstenlinie um 400 Meter ins Meer verschoben. Alle Schlauchboote werden ausgesetzt. Ein brodelnder Hexenkessel empfängt sie, die See verdampft im grollenden Poltern der Lavabrocken. Diesmal raucht es unübersehbar, Andrej Petrow sieht zufrieden aus. Ein eisiger Wind schneidet in die Gesichter, doch niemand achtet mehr auf die Fährnisse des Wetters. Denn hier hat sich gerade die Erde aufgetan, und wir sind Zeugen.

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