Weihnachtsbrauch in Österreich:Die Teufel tanzen

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Wer den zwölf Gestalten zufällig begegnet, darf nicht allzu zimperlich sein. (Foto: imago/Volker Preußer)

Wenn es dunkel wird, kommen sie aus dem Wald: Am Untersberg wird im Advent ein gruseliger Brauch gepflegt: die Wilde Jagd.

Von Hans Kratzer

Auf dem altehrwürdigen Bachmannhof im Salzburger Hinterland gehen an diesem Adventsabend seltsame Dinge vor sich. Aus der Finsternis sticht plötzlich ein Rabe hervor, er saust über den Hof, schlägt Haken hierhin und dorthin und erweckt den Eindruck, als sei er ein bisschen plemplem. Noch dazu ist der Vogel mannshoch gewachsen, es ist ein Rabe in Riesengestalt. "Grrrrruarrr, grrrrrrr, gruarrrr!", krächzt er dermaßen penetrant, dass der im nahen Untersberg ruhende Kaiser Karl der Große Gefahr läuft, wegen des Radaus sogleich zu erwachen. Kaiser Karl, so sagt die Legende, wartet im Untersberg auf seine Auferstehung. Bis es aber so weit ist, erhebt er sich alle 100 Jahre aus seinem Dämmer. Hat er sich vergewissert, dass wie eh und je Raben um das Bergmassiv fliegen, schläft er wieder ein.

Der Rabe, der auf dem Hof so übermütig lärmt, wiegt allerdings mindestens 70 Kilo. Mit diesem Kampfgewicht fliegt er garantiert nirgendwo hin. Stattdessen erschreckt er die in warme Mäntel gehüllten Leute, die in dieser kalten Adventsnacht auf den Hof geeilt sind. Doch es kommt noch dicker: Elf weitere Schreckgestalten sind dem Raben dicht auf den Fersen, auch sie toben und lärmen wie eine Blechbüchsenarmee. Im Schein des Mondes, der direkt über dem nahen Untersberg am Himmel hängt, harren sie aus. Es sind überwiegend Nachbarn und Verwandte der Bauernfamilie, die sich hier versammelt haben. "Erst vor zwei Stunden haben wir erfahren, was hier bevorsteht", erzählt ein älterer Herr.

Eigentlich sind Zuschauer nicht erwünscht, wenn die Wilde Jagd - das Wilde Gjoad, wie man hier sagt - alljährlich am zweiten Donnerstag im Advent über das Land fegt und in ausgewählten Bauernhöfen Einkehr hält. Der Ort bleibt bis zuletzt geheim, die Wilde Jagd soll die Höfe, so will es die Überlieferung, überraschend, aus dem Dunkeln und nur in Begleitung von Fackelträgern aufsuchen.

Das Wilde Gjoad ist ein uralter Mythos, der aus der überreichen Brauch- und Sagenwelt des Salzburger Umlandes herausragt. Die Trommelschläge, die Urschreie und das schreckliche Heulen dieses zwölfköpfigen Dämonenheeres lassen erahnen, welche Ängste die stark vom Aberglauben geprägten Menschen der alten Agrargesellschaft gequält haben. Damals, als die Natur voller Geister und Spukgestalten zu sein schien, erst recht in der finsteren Jahreszeit. In dem noch bäuerlich geprägten Landstrich zwischen Salzburg und dem Untersberg ist diese Aura des Numinosen, die das Landleben einst durchdrungen hat, nach wie vor stark zu spüren.

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Trommelschläge, Urschreie, schreckliches Heulen: Die zwölf Gestalten, die nachts von Hof zu Hof ziehen, legen keinen Wert auf Zuschauer.

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Wer ihnen zufällig begegnet, darf nicht allzu zimperlich sein. Die Wilde Jagd, nach dem örtlichen Dialekt, das Wilde Gjoad, erschreckt alljährlich Leute aus dem Salzburger Umland.

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Nach der in ganz Europa bekannten Volkssage jagt eine Gruppe von unheimlichen Wesen über den Himmel.

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Das Phänomen galt als Vorbote für Katastrophen und Kriege. Wer Zeuge des düsteren Spektakels wurde, galt als dem Tod geweiht.

In der 7000 Einwohner zählenden Gemeinde Grödig am Fuße des Untersbergs werden die Traditionen eifrig gepflegt, die alten Dorfstrukturen sind erstaunlich intakt. Auch die Gruselgeschichten der Vorfahren sind noch allgegenwärtig. Sie stammen aus jener Zeit, in der brave Zecher, wenn sie spätabends vom Wirtshaus heimwankten, voller Entsetzen die Wilde Jagd daherbrausen hörten, die dann über ihren Köpfen mit einem durchdringenden Geheul vorüberrauschte. Aufs Grausigste bündelte sich in diesen Winternachtsfantasien Hundegebell, Katzengeschrei, Rossgewieher, Raubvogelgekrächze und Natterngezisch. Eigentlich entstammt die Wilde Jagd einer in ganz Europa verbreiteten Volkssage, der zufolge eine Gruppe von unheimlichen Wesen über den Himmel jagt. Einerseits galt dieses Phänomen als Vorbote für Katastrophen und Kriege, sie wurde aber auch als Hinweis auf den Tod desjenigen gedeutet, der des düsteren Schauspiels ansichtig wurde.

An diesem Tag jedenfalls stürmt die Wilde Jagd nach Grödig, auf Höfe, die noch altehrwürdige Namen wie Bachmann, Ujai und Rackl tragen. Vielerorts haben sich alte Advents- und Raunachtsbräuche wie etwa der Perchtenbrauch, das Krampuslaufen und das Wolfauslassen im Bayerischen Wald zu kommerziellen Spektakeln weiterentwickelt. Davon kann beim Wilden Gjoad in Grödig keine Rede sein. Dieser Brauch ist von den Bedürfnissen des Tourismus noch nicht verdorben. Dieses archaische Treiben, so furchterregend es auch daherkommen mag, soll nichts als Glück und Segen bringen. Das Poltern soll das Böse abwehren und vertreiben. Gaffer und Zaungäste werden dafür nicht benötigt.

Die Wilde Jagd findet ausschließlich "im Weichbild des Untersberges" statt, wie es dort heißt - also in den am Fuße des Untersbergs angesiedelten Gemeinden. So verlangt es die Tradition, von der man allerdings nicht weiß, wie weit sie zurückreicht. Sicher ist nur, dass das Wilde Gjoad im Jahr 1880 eingestellt und erst im Jahr 1949 wieder ins Leben gerufen wurde, wie Alexander Wieland bestätigt, der Obmann der Brauchtumsgruppe Jung Alpenland, die diese Sitte hegt und pflegt - wenn auch sehr bedacht im Geheimen.

Schon deshalb ist es nicht leicht, sich als Tourist diesem adventlichen Ereignis zu nähern. Es herrscht bis zuletzt ein großes Rätselraten um den Laufweg der zwölf mythischen Gestalten, welche die Wilde Jagd bilden. Jedes Jahr suchen Rabe, Hex, Abfalter, Hahnengickerl, Habergoaß, und wie die Gestalten alle heißen, ein anderes Dorf heim. Auf ihrer Tour quer über die Äcker steuern sie ein gutes Dutzend Bauernhöfe an. Diese werden erst wenige Tage vorher über den Besuch informiert. Ein Erschrecken löst dies bei den Betroffenen nicht aus, im Gegenteil: "Es ist für die Einheimischen eine große Ehre, wenn sie von der Wilden Jagd aufgesucht werden", sagt Jakob Reitinger vom Tourismusverband Grödig. Ehre hin oder her, das Gute erwächst bei diesem Brauch direkt aus dem Chaos. Kaum steht das Wilde Gjoad vor der Tür, hebt ein grässliches Lärmen an. Wer je eine Vorstellung von der Urform eines Mythos bekommen möchte, der ist hier am richtigen Ort. Die Masken wirken im Fackelglanz noch unheimlicher, als sie es im vollen Licht eh schon tun. Jenes Gerippe, das den Tod darstellt, gibt mit der Trommel den Takt vor. Auch das Gjoad folgt dem ehernen Gesetz jeglicher Existenz: Allein der Tod bestimmt den Takt des Lebens.

Das Wilde Gjoad knüpft eng an den in Bayern und Österreich populären Perchtenbrauch an. Perchten sind prägende Gestalten im hiesigen Winterbrauchtum. Als Schönperchten bescheren sie Glück und Segen, als Schiachperchten vertreiben sie das Böse. Analog dazu trommelt nun in Grödig der Tod sein Gefolge zusammen. Nach dem Schrei des Hahnengickerls kehrt die Hex mit ihrem Besen den Platz vom Unreinen sauber. Die Vorpercht, die nicht weniger schrecklich anzusehen ist, verkündet nach einem Springtanz eine frohe Botschaft: "Glück herein - Unglück hinaus, es zieht das Wilde Gjoad ums Haus." Vor allem in dieser Szene kommt das Urmotiv jeglichen Winterbrauchtums im Alpenraum deutlich zum Vorschein: die Vertreibung des Schlechten und Bösen.

SZ-Karte (Foto: SZ-Grafik)

Schon wieder löst der Rhythmus der Trommeln beim Wilden Gjoad ekstatische Zuckungen aus. Nur langsam gehen sie in einen Tanz über, der Tresterer genannt wird und den Bauersleuten Glück und Fruchtbarkeit in Haus und Feld bringen soll. Nach einem weiteren Trommelwirbel legt sich das Wilde Gjoad flach auf den Boden, diese Geste ist eine Ehrerweisung an die Gastfamilie. Zuletzt verneigen sich die unheimlichen Wesen noch einmal, während sich die auf diese herausragende Weise geehrte Familie fürs Kommen und für den Segenswunsch bedankt. Der Dank erfolgt mit Naturalien wie Brot, Speck, Käse, Schnaps und Wein, die in den Körben zweier Begleiter landen. Später, nach getaner Arbeit, werden die Gaben beim Wirt gemeinsam verzehrt. Sodann verschwindet das Wilde Gjoad wieder in der Dunkelheit. Im Laufschritt eilt es quer über die Fluren und Felder auf den nächsten Bauernhof zu.

Zaungäste dürfen bei diesem Schauspiel nicht zimperlich sein. Die wilden Figuren bringen dem Menschen nämlich nur dann Glück, wenn sie ihn berühren. Deshalb haben sie, im Gegensatz zu anderen Finsterlingen des Weihnachtsfestkreises, keine Ketten oder Ruten dabei, sie schlagen auch nicht zu. Dafür streichen sie einem übers Gesicht und manchmal zerren sie eine Person auch ein Stück Weges mit. Attraktive Mädchen sind diesbezüglich weitaus mehr gefährdet als alte Männer.

Im Alpenraum war die Adventszeit noch nie die stillste Zeit im Jahr. Lärmendes Treiben ist seit jeher überall gang und gäbe, berüchtigt sind die ungestümen Begleiter des Nikolaus. Aber egal, ob es um Krampusse, Perchten oder um die Wilde Jagd geht: Im Kern berühren diese Bräuche immer die Geister- und Dämonenvertreibung sowie Glück-, Segens- und Fruchtbarkeitswünsche für das kommende Jahr. Nicht zuletzt ist die Wilde Jagd eine harte Arbeit. Die Masken, die ansonsten im Untersberg-Museum in Fürstenbrunn bei Grödig verwahrt werden, sind schwer, zudem sind die Akteure, die auch in Grödig anonym bleiben, stundenlang im Laufschritt unterwegs. "Junge Menschen für dieses Brauchtum zu begeistern, das wird immer schwieriger", bedauert der Verein Jung Alpenland. Sollte sich die Wilde Jagd tatsächlich irgendwann auflösen, dann ist wohl auch jener Tag nicht mehr fern, an dem die Raben vom Untersberg verschwinden. Wehe, wenn dann der Kaiser Karl endgültig aus seinem Schlaf erwacht.

© SZ vom 22.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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