Österreich:Gelbsegen

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Im Herbst zeigt der Große Ahornboden uralte Spezialeffekte. Das lässt selbst die Freizeit-Planer der Alpen erblassen.

Von Dominik Prantl

Der Oktober; er kann ziemlich schnell an Farbe verlieren, wenn die Natur nach ihren eigenen Gesetzen spielt. So wie damals vor zwei Jahren, als ein Tiefdruckgebiet polare Kaltluft nach Mitteleuropa schleppte und die ersten Boten des Winters schickte: einen halben Meter Schnee und Frost. Am 11. Oktober waren die Blätter an den Bäumen braun und hässlich statt gelb und rötlich, und an den Ästen wollten sie auch nicht mehr abhängen. Farbloser statt goldener Oktober; so etwas braucht niemand hier am Großen Ahornboden, erst recht nicht Margit Kofler.

Margit Kofler wohnt noch bis Anfang November am Ende einer langen, schmalen Straße. Diese windet sich vom Süden Deutschlands den Rißbach entlang nach Österreich, mitten hinein ins Karwendelgebirge, wo die Berge zwar nicht höher sind als anderswo, aber dafür schroffer. Die Straße führt durch die kleine Schattenortschaft Hinterriß und eine Landschaft, die viele Menschen mit Kanada assoziieren, selbst dann, wenn diese Menschen noch nie in Kanada waren. Auf den finalen Kilometern durchquert sie eine weite, mit mehr als 2000 Ahornbäumen gespickte Ebene inmitten einer fast bedrohlich wirkenden Felsarena. An Spitzentagen wie am kommenden Wochenende werden fast tausend Kraftfahrzeuge dieses rund 2,5 Quadratkilometer große Landschaftsschutzgebiet durchqueren, erst hin, und nach ein paar Stunden wieder zurück. Zwischendurch parken viele im Talschluss auf 1200 Metern, direkt auf der großen Asphaltfläche vor dem Alpengasthof Eng der Koflers.

Eine Sackgasse mit einer fast bedrohlichen Arena aus Felsen: der Große Ahornboden im Karwendel. (Foto: Roman Sandoz/Getty Images)

Die Natur ist hier noch für Überraschungen gut. Das ist beruhigend

Von außen und oberflächlich betrachtet wirkt das Hotel wie einer dieser Abfertigungsbetriebe des Kaffeefahrtentourismus. Das hat mehrere Gründe, den großen Omnibusparkplatz vor der Türe zum Beispiel oder das Sortiment des Kiosks mit Murmeltiersalbe, Kinderdirndln, Kuhglocken und Waldhonig. Geranien schmücken die Balkone. Drinnen: viel Tracht am Personal und jede Menge Hirschgeweih an der Wand. Noch weiter drinnen, hinter den Kulissen: Fotos von der Geschichte des aus einer Enzianbrennhütte hervorgegangenen Wanderhotels, ein Familienbetrieb in vierter Generation, und eben Margit Kofler, Chefin und Wanderführerin, in ihren kleinen Büro mit dem Satz: "Ständig rufen Leute an, die wissen wollen, wann sich die Blätter verfärben."

Exakt kann das niemand vorhersagen, trotz all der Westentaschenmeteorologen namens Wetterapps. Nicht einmal Kofler kann das, obwohl die schon seit 1971 das Karwendel bewohnt und beobachtet und es kennt wie ihre Westentasche. Irgendwie ist das merkwürdig beruhigend, sich noch einmal von etwas überraschen lassen zu können, auch wenn sich derzeit die Anzeichen langsam zur Gewissheit verdichten, dass dem Ahornboden ein wahrlich Goldener Oktober bevorsteht. Und mag die Natur noch immer der unzuverlässigste Partner des Tourismusgewerbes sein, so ist sie auch noch immer für das ganz große Spektakel zuständig. Jedenfalls können die modernen Freizeitplaner der Berge so viele Seilbahnen und Halligalli-Einrichtungen in die alpine Landschaft stellen wie sie wollen: Mit baumbesetzten Gebirgslandschaften in einem guten Oktober, wenn der einzige Special-Effect in uralter Tradition darin besteht, dass das Blattgrün Chlorophyll langsam und über Wochen hinweg für anderen Pflanzenfarbstoffen wie Karotinoiden und Anthocyanen Platz macht, können auch sie nicht mithalten.

Da ist es nur logisch, dass die Tiroler ihre Herbstlandschaften inzwischen bewerben wie sonst nur die Nordamerikaner ihren Indian Summer. Der Slogan: "Farb-Fern-Sehen". Wobei Kofler nicht von einer touristischen Attraktion sprechen würde: "Es ist eher für Leute, die erfassen, wie schön das eigentlich ist." Kofler meint das auch ganzheitlich, bei der Schönheit geht es ja nicht nur ums Farbenspiel der Blätter. Oft sind die umliegenden Felswände im oberen Bereich schon mit Schnee bestäubt, darüber das Blau des klaren Himmels. Eine wie Kofler begnügt sich auch nicht damit, einfach nur Ahornbäume zu beobachten. Ihr morgendliches Wanderangebot enthält dieser Tage unter anderem eine Morgenwanderung zur Hirschbrunft. Dazu der Hinweis: "Die Hirsche röhren um die Wette!" Mehr Herbst als hier geht nicht, Austrian Summer sozusagen.

Zugegeben: Die Natur ist nicht nur unberechenbar, sie hat auch viel länger für ihre Erlebniswelten gebraucht. Im Falle der Entstehungsgeschichte des Großen Ahornbodens ist man schnell zurück in der letzten Eiszeit, als eine bis zu 800 Meter dicke Eisschicht erst einmal die Ebene aushobelte, ehe nach der Schmelze der mäandernde Fluss seinen Arbeitsschritt anfügte und eine teilweise mehr als 100 Meter mächtige Schotterfläche aufhäufte. Solch einen Boden mag der Bergahorn; Ahornbodenexperten wie Hermann Sonntag, Geschäftsführer des Vereins Alpenpark Karwendel, nennen den Baum "schottertolerant".

(Foto: N/A)

Außerdem ist der Große Ahornboden keineswegs das Werk der Natur alleine. Nach Eis und Wasser leistet schließlich auch der Mensch seinen Beitrag, nicht am Reißbrett, sondern durch Jahrhunderte andauerndes Wirtschaften. Wer vom Parkplatz einige hundert Meter weiter läuft in Richtung Felswandbarriere, vorbei an Ahornbäumen und Informationstafeln, trifft auf ein Almdorf, bestehend aus den Hütten und Stallungen von Bauern aus dem Inntal, einer Käserei mit Bauernladen, Kapelle und Raststube. Bereits in den ältesten noch erhaltenen Urkunden aus dem Jahr 1460 taucht die Engalmen auf, wahrscheinlich gab es sie sogar schon 400 Jahre früher. Jedenfalls waren es laut Sonntag einst die Almbauern, die andere Baumarten wie Fichten, Tannen und Buchen im Zuge der Weideflächengewinnung rodeten und so die als Holzvorrat und Schattenspender beliebten Ahornbäume zur dominanten Spezies erhoben. Und wahrscheinlich ist es vor allem der Düngung durch Nutztiere zu verdanken, dass der Talboden von einer nur wenige Zentimeter dicken Humusschicht bedeckt ist. "Zur Bodenbildung kam es erst durch die Bewirtschaftung", sagt Sonntag.

Das Almdorf Eng ist mittlerweile eine Agrargemeinschaft mit einer gemeinsamen Käserei, schließlich geht es auch auf der Alm nicht nur um Landschaftspflege, sondern um Effektivität und Prozessoptimierung. Aber noch immer gehört den Bauern der Ahornboden, mit fast allem, was sich darauf befindet. Nur die teilweise bis zu 600 Jahren alten Ahornbäume sind in Besitz der Österreichischen Bundesforsten. "Altes Recht aus dem Jahr 1854", sagt Karl Höger, Obmann der Agrargemeinschaft Engalm.

Einen Nährboden bildet die große Ebene auch für ihn und die anderen neun Landwirte, und das nicht nur deshalb, weil dort 228 Milchkühe grasen. "Wir leben zum Großteil vom Tourismus", sagt Höger. Der setzte in größeren Umfang erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. In den späten fünfziger Jahren wurde auf einer Almhütte mit dem Ausschank begonnen, der Bauernladen kam 1981 hinzu. Noch ein paar Jahre später begannen die ersten Bauern damit, Gäste in ihren Almhütten aufzunehmen. Inzwischen gibt es auf der Engalm etwa 60 Schlafgelegenheiten, seit zehn Jahren vermietet auch Obmann Höger seine Zimmer, wobei die Auslastung stark schwankt. Zum Auftakt der Almsaison, wenn die Wiesen blühen, sei es auch wunderschön, aber das interessiere viele nicht. Für den Tag der Deutschen Einheit - dem Spitzentag am Ahornboden schlechthin - hatte er dagegen schon einmal so viele Anfragen, dass er die Menschen in seinem Heuschober schlafen ließ. "Am Ende lagen da 15 Leute drin. Ein Pärchen wollte sogar unbedingt noch eine weitere Nacht bleiben." Und gingen vor 15 Jahren noch zwei Drittel der Produkte in den Großhandel, verkaufe man heute in etwa so viel direkt im eigenen Laden. "Manche haben sogar ihre Kühltasche dabei."

Von der Schotterebene über die Almfläche zum Tummelplatz für Touristen - dieser Entwicklung hat sich auch die Eng nicht verschließen können. Und manchmal muss Kofler sich doch arg wundern: "Es gibt echt Leut', die an Vogel ham." Da gebe es beispielsweise jene Gäste, die sich samt Fahrrädern in Bussen ankarren lassen, um dann die leicht abfallende Straße talauswärts rollen zu können. Irgendwann habe sie festgestellt, sagt Kofler, dass sich Radler Klopapier aus den Toiletten ihrer Gaststätte unter die Kleidung stopften, weil sie offenbar von der Kälte überrascht worden waren. Einmal sei die komplette Damentoilette ausgeräubert gewesen. "Auf so etwas muss du erst einmal kommen."

Jeder Stamm ist ein Mikrokosmos, bewachsen mit Flechten, Moosen, Farnen

Andererseits hat Kofler auch festgestellt: "Es wird nicht mehr kreuz und quer geparkt wie früher. Das machen die vom Naturpark schon gut." Tatsächlich scheint es hier irgendwie zu klappen, dass der Ahornboden eben nicht nur als Viehweide oder Fotomotiv dient, sondern seit jeher auch Lebensraum für Fauna und Flora ist. Die Bäume, ob nun jung oder bereits abgestorben, stehen bereits seit 1927 als Naturdenkmäler unter Schutz und sind heute Teil des Naturparks. Wer Sonntag, dem Naturpark-Geschäftsführer zuhört, bekommt einen Eindruck davon, welch ein Mikrokosmos so ein knorriger Stamm sein kann. Bis zu 70 Flechten, Moose und Farne wuchern auf der rauen Borke, in den hölzernen Höhlen nisten diverse Vögel sowie acht Fledermausarten. Sogar ein eigener Managementplan wurde deshalb zur Verjüngung und Erhaltung des Bergahornbestandes erstellt.

Sonntags Lieblingsplatz hat auf den ersten Blick allerdings wenig mit Moosen und Fledermäusen zu tun, sondern mit einem alten Bild. Es wurde 1922 im vorderen Bereich des Ahornbodens aufgenommen und zeigt einen alten, leicht schräg gewachsenen Baum. Darunter steht eine Frau, die Hände hinter dem Rücken. Den Baum gibt es heute noch, er dient weiterhin als Motiv. Sonntag meint: "Es entscheidet sich doch erst in vielen Jahren, wie wir mit unserem Erbe umgehen."

© SZ vom 01.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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