Mitten in Absurdistan:Szenen im öffentlichen Verkehr

Verzweiflung am Straßenrand, dankbare Fahrgäste und Eheversprechen im Großstadtlärm: Kuriose Erlebnisse von SZ-Autoren.

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Mitten in ... Ebersberg Es kann anstrengend sein, erstmals nach Monaten wieder in Deutschland zu sein. Vor allem, wenn man aus Moskau kommt, ist Russland doch in einer Hinsicht sehr praktisch: Die alte Zeitung gesellt sich im Mülleimer zur leeren Glasflasche, Apfelschalen faulen neben Joghurtbechern.  Ein schlechtes Gewissen muss deshalb keiner haben, Mülltrennung gibt es nicht. Aber jetzt ist nicht Moskau, sondern Ebersberg, vergessen geglaubte Mühen werden wieder eingefordert. Sogar im Fastfood-Restaurant, in dem Müllberge zum Konzept gehören. Missmutig fällt der Blick auf ein Tablett mit Fremdabfall, das einer auf meinem Tisch stehen ließ. Was tun? Etwa aufräumen? Bekleckerte Pappe auch noch trennen, wie gefordert? Der Kompromiss: Wegbringen und neben die Sortierboxen stellen. Sogleich kommt die Bedienung und wirft alles - in den Restmüll. Wie in Moskau. Frank Nienhuysen, SZ vom 28./29.8.2010

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Mitten in ... Akureyri Ach, Island. Viele Tage durchgerüttelt auf Schotterpisten, staunend vorbei an Fjorden' Gletschern, am Vulkan Eyjafjallajökull. Überall: Natur und Schafe. Nun, endlich: Akureyri, eine echte Stadt.  Die erste Ampel seit 600 Kilometern! Rot leuchtet es. In Herzform! In der Stadt prangen noch mehr Herzen: an Litfaßsäulen, der Freibadmauer, an der "DJ"-Bar. In der Stadtbibliothek weiß man mehr. Die Herzen gebe es seit Ausbruch der Finanzkrise, erzählt der Bibliothekar. Seine Frisur erinnert an Wickie; der Rest an die starken Männer. Die Krise kostete viele Isländer viel Geld. "Die Stadtoberen wollten die Stimmung heben", so der Hüne. Sind die Leute jetzt besser gelaunt? "Es wirkt, es kostet wenig und es schadet niemandem." Wickie strahlt wie ein lebendiger Beweis. "Probieren Sie das auch in Deutschland." Glückliches Island. Oliver Das Gupta, SZ vom 21./22.8.2010

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Mitten in ... Rom Kein Verkehr - man kann jetzt radeln in Rom, wo es sonst selbstmörderisch wäre. Muss ich auch. Der nächste offene Zeitungsladen ist plötzlich gut zwei Kilometer weg, ähnlich der Bäcker. Die Römer sind fast geschlossen im Urlaub. Geschlossen deshalb, außer im Zentrum, auch fast alle Läden. Das Radio sendet Überlebenstipps für Verbliebene. Es ist unheimlich still im sonst belebten Viertel, nichts als geschlossene Rollläden. Die vielen Hunde hier sind offenbar auch verreist. Hoffe ich jedenfalls. Es gab nämlich Berichte, dass verwaiste Hunde sich von Balkons gestürzt haben. Auch höre ich Hunde in Gärten, wo sonst nie welche sind: Villenbesitzer heuern sie samt Fütterdienst an, damit sie in deren Abwesenheit Wache schieben. Auf die Idee, sie könnten heimlich missbrauchte Gäste schicker Tierpensionen sein, kann einen nur eines bringen: die große Augustleere. Andrea Bachstein, SZ vom 21./22.8.2010 Hundepension in Rom

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Mitten in ... Washington Mark Knoller übersetzt alles in Zahlen. Alles jedenfalls, was den Präsidenten angeht. Der etwas schrullige Kollege berichtet für CBS-Radio aus dem Weißen Haus, und als Barack Obama nun in den Strandurlaub aufbrach, hatte Knoller die Kennziffern zur Hand: Dies sei Obamas neunter Urlaub seit Amtsantritt; wenn man die Aufenthalte auf dem Landsitz in Camp David hinzurechne, bringe es Obama seit dem 20. Januar 2009 auf 70 Tage "ganz oder teilweise Ferien". Sonn- und Feiertage zählt Knoller mit, er unterstellt eine präsidentielle Sieben-Tage-24-Stunden-Woche. Aufkeimenden Sozialneid erstickt ein Blick auf die Statistik von George W. Bush. Der Republikaner hatte im selben Zeitraum 225 Tage im Oval Office gefehlt. Obama ist fleißig, nur hilft ihm das? Die meisten Amerikaner finden: Je mehr Urlaub er macht, desto besser. Christian Wernicke, SZ vom 21./22.8.2010 Barack Obama, Michelle Obama und Sasha Obama beim Minigolf in Florida.

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Mitten in ... Kinshasa Professor Mabiala hat im Kongo schon viel erlebt. Den Sturz Mobutus, den Bürgerkrieg und sowieso den täglichen Irrsinn in diesem elenden Tropenstaat. So wütend wie jetzt aber war er selten. "Eine Sauerei", schimpft er ins Telefon, "die machen mir meinen Namen kaputt!" Dabei wollte man nur wissen, ob er gerade in London ist. Von dort hatte der Ethnologe eine E-Mail geschickt. "Ich brauche dringend Ihre Hilfe", hieß es, er sei auf einer Tagung und habe seinen Geldbeutel verloren, er brauche sofort 1550 britische Pfund fürs Hotel. Mabiala ist aber gar nicht in London, sondern in Kinshasa. Und von dort muss er mit ansehen, wie irgendwer seinen E-Mail-Account geknackt hat und Bettelbriefe verschickt. Als ob das Chaos im Kongo nicht ausreichen würde, sagt er, "jetzt muss ich mich auch noch mit Idioten im Rest der Welt herumschlagen." Michael Bitala, SZ vom 21./22.8.2010

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Mitten in ... Ljubljana Ljubljana hat einen offiziellen und einen inoffiziellen Ruf. Der eine berichtet von der zauberhaften Altstadt und von der Burg über der knuffigen Slowenenhauptstadt. Der andere gilt den Frauen. Als Mann, so berichten Männer, kann man in Ljubljana Herz und Verstand verlieren. Gehört - recherchiert. Und schwer irritiert. Nicht wegen der Sloweninnen, die sind wirklich ganz reizend. Das Problem ist, dass die Stadt längst Wind bekommen hat von ihrem speziellen Image. Schon im Hotel locken auf dem Klo Kontaktanzeigen mit halboffenen Frauenmündern. Später im Café ist das Waschbecken geformt wie ein Frauenpo. Und erst das Nachtleben. Im "Skeleton", der vollsten Bar der Stadt, heißt der Drink nicht Sex on the Beach, sondern, ernsthaft: "Sex auf dem Klo". Nach zwei Gläsern braucht man zumindest eines von beiden. Marc Felix Serrao, SZ vom 14./15.8.2010

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Mitten in ... Istanbul Türken sind Meister der Satire. Eine TV-Serie veralbert eines dieser Pärchen, das seine Dummheit hinter demonstrativer Kultiviertheit zu verstecken sucht. Die beiden bringen ständig Buchstaben und Wörter durcheinander, sagen "bütte" statt "bitte", bestellen beim Italiener einen "Esperesko" und dozieren in gelehrtem Tonfall, das Buch sei "des Menschen bester Toast" (statt Trost). Die Serie ist Kult. Jetzt aber naht Gefahr. Wortwitz? "Sprachentstellung!", schimpft die Rundfunkaufsicht und droht gar mit Abschalten. Begründung: Die Serie schade "der moralischen und seelischen Entwicklung der Jugend". Nicht wegen Sex, nicht wegen Gewalt, sondern weil hier Paris in Holland verortet und der "Boyfriend" zum "boy frenk" wird. Die Serie heißt übrigens "Türk mali". Das kann man übersetzen als: "Made in Turkey". Aber auch als: "Türkische Vollidioten". Kai Strittmatter, SZ vom 14./15.8.2010

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Mitten in ... Lampaul-Plouarzel Die Luft schmeckt salzig, es riecht nach Miesmuscheln und Pommes frites, einer bretonischen Spezialität. Le Môle ist weit und breit die einzige Bar hier an der französischen Atlantikküste. Hinter dem Tresen arbeiten zwei Männer. Der ältere Bretone mit den silbergrauen Löckchen und der Knollennase unterhält die Gäste und konsumiert fleißig Rosé. Sein Kollege erledigt den Rest: Pommes frittieren, Muscheln kochen, Bier zapfen und Wein ausschenken. Einer der Gäste erzählt lautstark und in nicht mehr ganz klarem Französisch von seinem Leben als Busfahrer. Toulouse-Berlin, hin und zurück, lallt er noch, bevor er das Gleichgewicht verliert. Einige Stunden und unzählige Gläser später zieht die Frau des Busfahrers ihren Mann vom Tresen weg. Auf sie gestützt wankt er zum Parkplatz. Kurz darauf fährt ein Auto vorbei, am Steuer der Busfahrer. Inga Rahmsdorf, SZ vom 14./15.8.2010

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Mitten in ... Saint Pée-sur-Nivelle Die Basken pflegen komische Sportarten, wie man sie sonst nur Bayern oder Schotten zutraut: Milchkannen-Weitlauf, Baumstamm-Zerlegen. Am liebsten treffen sie sich zum Pelotaspiel am Fronton, einer Betonwand, die auf jedem Dorfplatz steht. In Saint Pée-sur-Nivelle im französischen Baskenland haben sie für den Abend einen Wettkampf angekündigt. Ein harmloses Touristenspektakel, denken wir und lassen uns ganz nah am Fronton nieder. Ein Ordner mahnt, das könne gefährlich werden. Teil der Show, denken wir. Dann kommen die Spieler. Sie peitschen mit bananenförmigen Schlaghandschuhen einen harten kleinen Ball durch die Luft, dass wir uns vorkommen wie beim Quidditch-Spiel mit Harry Potter. Der letzte Ball donnert mir gegen die Wade und hinterlässt einen brennenden, knallroten Fleck. Von wegen Touristenspektakel. Stefan Ulrich, SZ vom 14./15.8.2010

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(Foto: dpa)

Mitten in ... Biarritz Ein Nachmittag am Atlantik. Genüsslich wie eine Katze döst die Place Sainte-Eugénie unter der milchigen Sonne. In den Bistrots sitzen Touristen vor Platten mit Austern, Schnecken, Krabben und anderem Meeresgetier. Auf einer Bühne stimmen Musiker ihre Instrumente für den Abend. Da sprengt eine Detonation die Idylle. Gepanzerte Wesen wie aus einem Video-Kampfspiel marschieren auf. Die Polizisten riegeln am oberen Ende des Platzes die Rue Mazagran ab, die Bummelmeile. Auf der Straße laufen schwarze Gestalten durch den Nebel der Rauchbomben, sie schreien, schwenken Flaggen in den Farben des Baskenlandes. Einige Touristen machen Fotos. Nach 15 Minuten ist der Spuk vorbei. Ein Kellner beruhigt uns, das seien nur aus Spanien eingesickerte Krawallbrüder gewesen. Mit Frankreich habe das nichts zu tun. Dann serviert er eine Eisbombe. Stefan Ulrich, SZ vom 7./8.8.2010

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(Foto: Uli Deck/dpa)

Mitten in ... Hammelburg Manchmal werden Journalisten in eine Art Kampfeinsatz in die Kaserne im fränkischen Hammelburg geschickt. Dort sollen sie lernen, wie sie Attacken in Krisengebieten überleben. Schon am ersten Abend droht Gefahr: Im Offizierskasino bricht während des Essens ein Rohr, das Wasser schwappt über eine Stromleitung. Klarer Befehl: "Sofort evakuieren!" Am Abend darauf fließt kein Wasser mehr - dafür Salatsoße. Der junge Soldat, der bedient, muss vom Aufwischen nach dem Rohrbruch noch so erschöpft sein, dass er die Vinaigrette beim Teller-Abräumen über dem Pullover eines Kollegen ausschüttet. Sprachlich allerdings sind die Ausbilder echte Vorkämpfer. "Switch your brain online", rät der Offizier. Wer mitdenkt, kann sich meist retten, lernen wir also. Dann, sagt der nette Mann in Uniform, ist alles "schicki lucky". Yes, man! Judith Raupp, SZ vom 7./8.8.2010

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(Foto: DPA)

Mitten in ... München Samstagmorgen im Schwimmbad: Wasserbälle und Schaumstoffgurken dominieren die Badelandschaft, im Planschbecken waten und rempeln gefühlt drei Dutzend Kinder unter vier Jahren. Lärm ist kein Ausdruck für den Geräuschpegel, aber wurscht: laissez faire. Während der Nachwuchs beim Schiffchenklau erste soziale Kontakte knüpft, hocken die Erziehungsberechtigten rundherum, Knie angezogen, Füße im pipiwarmen Wasser. Im Becken steht auch eine Schildkröte, die auf Knopfdruck Wasser aus dem Maul spritzt. Ein Junge hat sie besetzt. Er schreit lauter als alle und schubst jeden weg, der auch mal den Knopf drücken möchte. Die Eltern rollen mit den Augen, raunen: peinlich. Wenn das meiner wäre! Da springt die Mutter eines kleineren Jungen auf, greift seinen Arm und brüllt: "Verdammt! Wehr dich, schlag halt zurück!" Jetzt ist Ruhe. Corinna Nohn, SZ vom 7./8.8.2010

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(Foto: ULHBP Heinz Fischer. APN)

Mitten in ... Salzburg Salzburg setzt sich säuberlich ins Bild. Vor dem Großen Festspielhaus, der dichten Front der Blitzlichtkameras, fährt die Prominenz vor: eine riesige Kehrmaschine, zum Polieren des eitlen Festspielparketts; ein gewaltiger Müllwagen; ein Altpapierlaster, zum Entsorgen pampiger Kritiken. Derweil huschen zwei Grauköpfe durch das Gewimmel rundum: ULHBP ist gekommen, mit einem als verschollen geltenden Gast. Beinahe hätte man die beiden übersehen. ULHBP, das ist im kürzelsüchtigen Österreich "Unser Lieber Herr Bundespräsident" Heinz Fischer, und im Schlepptau hatte er seinen weithin zur medialen Fahndung ausgeschriebenen deutschen Exkollegen Horst Köhler. Es gibt ihn noch, er ist dem Reich der Schatten entrissen - wie gleich danach Euridice von Orfeo dem Hades, Gluck sei Dank. Michael Frank, SZ vom 7./8.8.2010

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(Foto: AFP)

Mitten in ... Mexiko-Stadt Er wehrt sich, aber er hat keine Chance. 2003 haben sie aufgehört, den VW Käfer zu bauen, jetzt soll er aus seiner Hochburg Mexiko-Stadt verschwinden. Wer Taxi fuhr in der Metropole, der stieg meistens in einen Vocho ein, so heißen die hier. Der Beifahrersitz ist ausgebaut, der Gast fällt auf die Rückbank, die Tür schließt der Fahrer mit einer Schnur. Nirgendwo war er mehr Volkswagen als bei den Mexikanern, gerüchteweise konnte er schwimmen und fliegen, aber spätestens 2012 werden die rollenden Kugeln aus dem Moloch verbannt. Die Politiker finden, sie seien zu schmutzig. Von den 100.000 Droschken war vor kurzem noch jeder Dritte ein grünweißer Käfer, nun geht es rapide bergab wie bei anderen aussterbenden Tierarten. Erst mussten sie weinrotgolden lackiert werden, bald will man sie auf den Schrottplatz zwingen. Mach's gut. Peter Burghardt, SZ vom 31.7./1.8.2010

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(Foto: dpa)

Mitten in ... Frauenchiemsee Musiker sind eine Seuche. Vor allem im Biergarten. Als die beiden Gitarre, Ziehharmonika und Mini-Verstärker mitten in Fritzi's Biergarten (Original-Apostroph) auspacken, machen sich Fluchtgedanken breit. Doch vom himmlischsten Fleck auf der ohnehin himmlischen Fraueninsel lässt man sich nicht gerne vertreiben. Dann spielen sie: "La Vie En Rose" wie Aznavour, "Knockin' On Heavens Door" mit Guns&Roses-Touch und "Georgia" natürlich. Sie spielen leise, lang und gut. Dann kommt die Runde mit dem Hut. Sie wären mehr wert gewesen als zwei Euro, die gerade habhaft waren. Die zwei Damen am Nebentisch, hörbar Touristen, hatten geklatscht. "Ich hab schon gezahlt", sagt die eine zur anderen. Sagt die: "Gut getimt." Die beiden Damen stehen auf und gehen. Nur zwei Sekunden, bevor der Hut sie erreicht hätte. Karl Forster, SZ vom 31.7./1.8.2010

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(Foto: ddp)

Mitten in ... Frankfurt Die Frankfurter U-Bahn kann gefährlich sein. Da droht schon mal Prügel, wenn man falsch guckt. Trotzdem gucke ich auf den jungen Mann, der in den Wagen steigt. Naßgekämmte schwarze Haare, kurz geschnitten. Tätowierungen auf den muskulösen Armen. Neben ihm sein Kumpel: auch kräftig gebaut. In der Hand hält der vielleicht 17-Jährige ein Stück Papier, und der Inhalt dieses Papiers gibt dem halbstarken Gesicht ein herzliches Lachen. Ich schaue fragend. "Mein Zeugnis", sagt er stolz. Bestanden? "Ja", sagt er. Er gibt es mir in die Hand, sein Nachname, der darauf steht, klingt magrebinisch. "Ich sehe nicht nur gut aus, ich bin auch noch gut. Jetzt bekomme ich auch einen Job", sagt er mit begeisterter Stimme. Als was? "Buchhalter, ist ein guter Job." Ich überlege. Er sagt: "Alter, Sie sehen auch aus wie ein Buchhalter." Markus Zydra, 31.7./1.8.2010

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(Foto: apn)

Mitten in ... Koforidua Der Fahrer hat sich verirrt. Er lenkt das Taxi über dunkle Feldwege, zweimal geraten wir in Polizeikontrollen. Es ist kurz nach Mitternacht, als wir in einem Vorort von Koforidua, ein Stück nördlich von Ghanas Hauptstadt Accra, ankommen. Wir haben Hunger, aber alles, was wir finden, ist eine kleine Bar: Bier, Cola, Limonade. "Kriegen wir hier noch irgendwas zu essen?", fragen wir den Barkeeper. "Kommt mit", sagt er, und führt uns hinaus um die Ecke zu einem Schuppen. Er sperrt die Tür auf, wir sehen rotes, gelbes, blaues Licht, viele Luftballons. "Ein Puff", denken wir, bevor wir eintreten. Es ist ein großer Raum, in der Mitte steht ein riesiges Himmelbett, darauf liegt eine uralte Frau. "Meine Mutter, wir haben sie aufgebahrt", sagt der Barkeeper. "Morgen ist Beerdigung. Ihr seid herzlich eingeladen!" Gegessen haben wir nichts mehr. Florian Fuchs, SZ vom 31.7./1.8.2010

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(Foto: dpa)

Mitten in ... München Wer im Glashaus sitzt, sollte manchmal rausschauen. Speziell wenn es der 22. Stock eines Büroturms am Rande Münchens ist. Ewig unzufriedene Kollegen jammern ja gerne, hier sei nichts los. Das stimmt aber nicht. Schon gar nicht aus ornithologischer Sicht. Denn der 99 Meter hohe Turm wird sehr gut angenommen. Abgesehen von Rabenkrähe und Mauersegler ist in dieser Höhe besonders der Turmfalke heimisch. Er nutzt die Thermik an den Glasplatten. Häufig fliegt er so nahe vorbei, dass man ihm in die Augen schauen kann. Vor zwei Tagen schoss er direkt auf die Glasscheibe zu, man musste befürchten, er zerschelle daran. Weit gefehlt. In Fußhöhe der im Glaskäfig gefangenen Büroarbeiter krallte er sich an die Fassade. Etwa drei Minuten beobachtete er das Treiben, dann schwang er sich wieder in die Freiheit. Falke müsste man sein. Hans Gasser, SZ vom 24./25.7.2010

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(Foto: Reuters)

Mitten in ... St. Petersburg Wenn man mit Kindern unterwegs ist, verändert Russland sein Gesicht. Grimmig wirkende Menschen springen in der U-Bahn auf, um Platz anzubieten, muskulöse Machos helfen, den Buggy über Treppenstufen zu tragen, und wer versichert, dass alle drei Kinder auch die eigenen sind, kommt in einige Museen umsonst rein. Nun der Härtetest: ein Restaurant am Rande der überfüllten St. Petersburger Touri-Meile Newskij Prospekt. Die Bedienung bietet sogar ein mit Spielsachen gefülltes Zimmer an. Das ist gut, denn nach zehn Minuten Nahrungsaufnahme reicht es den Kleinen schon. Den Rest der Zeit sehen wir, wie sie im Nachbarraum mit einem Luftballon Fußball spielen. Als wir sie holen, zeigt sich eine Dame, die sehr ruhig die ganze Zeit in einer Ecke saß. "Alles in Ordnung", sagt sie, "ich bin das Kindermädchen des Restaurants." Frank Nienhuysen, SZ vom 24./25.7.2010

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(Foto: apn)

Mitten in ... Würzburg Um kurz nach zehn hat der Regen aufgehört, es ist, als hätte er alle Geräusche fortgespült aus der Fußgängerzone. Würzburg liegt still im Dunkeln. Ein zarter Wind geht, ohne ihn wäre die Schwüle kaum auszuhalten. Auf einmal trägt der Wind Musik heran, es ist eine Arie, sie muss vom Himmel gefallen sein wie der Regen. Maria Callas singt "La Mamma Morta!", bedrückend traurig und berückend schön. Aber da singt jemand mit der Callas, vorne an der Juliuspromenade muss sich ein Chor verstecken. Die Musik wird immer lauter, die Spur führt an einen Ort, an dem man sie zuletzt vermutet: in ein amerikanisches Hähnchenrestaurant. Eine italienische Opernkompanie hat das Lokal erobert, die Damen im Abendkleid, die Herren im Frack. Sie essen Pommes und singen mit der Callas. Der oberste Hähnchenbrater steht daneben und strahlt. Roman Deininger, SZ vom 24./25.7.2010

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(Foto: ddp)

Mitten in ... Ancona Gibt es eine Steuerpflicht für Geistwesen? Bei knapp 40 Grad im Schatten des Bürokastens der Steuerbehörde mitten in Ancona, der Hauptstadt der italienischen Region Le Marche, stellt sich plötzlich diese Frage. Zwei junge Deutsche hatten vor Jahrzehnten einmal ein winziges Häuschen in den marchegianischen Hügeln gekauft. Die Frau ist nun vor kurzem allzu zeitig gestorben. Der Witwer erbt ihre Hälfte. Vererben darf in Italien jedoch nur, wer eine eigene Steuernummer hat. Hatte sie aber nicht, war damals unnötig. Die junge anconetanische Anwältin, die hilft, frohlockt über die ihr bislang verborgene Variante poströmischer Bürokratie: Eine neue Steuernummer für eine Tote! Der Beamte stellt sie völlig ungerührt aus, ist doch selbstverständlich. Italienische Steuerbürgerin - man sollte es auf dem Grabstein nachtragen lassen. Michael Frank, SZ vom 24./25.7.2010

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(Foto: AFP)

Mitten in ... Tel Aviv Der Strand von Tel Aviv ist das Paradies für Hedonisten. Sie räkeln sich in der Sonne, spielen Beachball oder stählen ihre Körper an Kraftgeräten, die überall herumstehen. Am Heiligen Strand im Heiligen Land muss man jung sein und sexy. Und wer keinen Waschbrettbauch hat und keine Tätowierung, kann sich hier sehr schnell sehr alt fühlen. Das schmerzt, und es hilft wahrscheinlich auch nichts, sich ein Waschbrett auf den Bauch tätowieren zu lassen. Das Einzige, was hilft, ist früh aufzustehen. Denn morgens um sieben gehört der Strand nicht den notorisch Schönen, sondern den Alten, den Bettflüchtigen wahrscheinlich. In großen Cliquen treffen sie sich zum Frühsport, stehen im Wasser, plantschen, tratschen. Sie sind entspannt und freundlich, und es tut gut, sich unter sie zu mischen. Man kann sich sehr schnell wieder sehr jung fühlen. Peter Münch, SZ vom 17./18.7.2010

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(Foto: AFP)

Mitten in ... Paris Oben brennt die Sonne auf den Asphalt, unten presst die Metro heiße Luft durch Schächte. Dieu, putain, juillet!, stöhnt Paris. Bei der Temperatur denkt man an Juliette Binoche. In Kiarostamis Film "Copie conforme" schwebt Binoche, auch schon 45, im luftigen Kleid mit Riemchensandalen durch die Sommerhitze. Frischer Lancôme-Teint, makelloses Dekolleté, nie klebrig. So viel souveräner als man selbst (noch nicht 45). Gerade im eitlen Paris, wo man sich in so vielen Scheiben spiegelt: Schwitzig, Umhängetaschenschmiss am Brustbein, sowieso ist man eher der gelbhaarig-rotgesichtige Typ. Um den Daseinsschmerz zu lindern, gibt es ein Eis auf der Île St. Louis. "Puh, ist das heiß", stöhnt eine Frau in der Schlange. Fährt sich mit einem Tuch über den blassen, schweißperlenden Nacken; dreht sich um. Es ist Binoche. Auch sie schwitzt! Julia Amalia Heyer, SZ vom 17./18.7.2010

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(Foto: AP)

Mitten in ... Wien Wiener sind so vom eigenen Charme überzeugt, dass sie ihn ohne Zweifel der Unesco-Liste des immateriellen Weltkulturerbes für wert hielten. Erfolglos bislang. Lehrreich war diesbezüglich eine nächtliche Runde im idyllischen Hof eines schönen Jahrhundertwendehauses der Wiener Josefstadt. Ein kleiner Brunnen plätschert zwischen Rosen, Clematis und Oleander, und die Mücken beißen wie noch nie. Es ist sehr heiß, und doch wird weiter eingeheizt: Man qualmt, wie nur im tabakversessenen Österreich noch möglich. Den nichtrauchenden Gast, der mit Mückenklatschen befasst ist, umwölkt ein Pfeifenmensch mit dicken Schwaden. Leise Hustenanfälle quittiert der Tabakfreund mit dem Satz: "Nur Rauch hilft gegen Gelsen (so heißen hier die Stechbiester), ich rauche die ganze Zeit schon so verzweifelt, nur um Sie zu retten." Charmant. Michael Frank, SZ vom 17./18.7.2010

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(Foto: Catherina Hess)

Mitten in ... München In Radlerkluft wirkt man doch gleich viel professioneller. Der Helm, die enge Hose und das sportlich geschnittene Trikot sind auf dem Radweg an der Isar ein klares Signal an die Entgegenkommenden: Hier ist jemand unterwegs, der dank Fahrtwind und Funktionskleidung nicht mal schwitzt. Aber was ist das. Ein Trupp in Radlermontur bewegt sich in einiger Entfernung in die gleiche Richtung. Jetzt werden sie langsamer, und weil sie die ganze Breite des Weges einnehmen, bremsen sie auch die Nachfolgenden aus. An einer leichten Steigung bleiben sie schließlich stehen, steigen ab, diskutieren. Nicht auszuhalten, diese Hitze, und dann diese Klamotten - Hosen und Trikots spannen sich wie Wurstpellen über die rundlichen Körper, einem schneidet der Helm fast die Luft ab. Vielleicht haben sie es mit der Professionalität übertrieben. Corinna Nohn, SZ vom 17./18.7.2010

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(Foto: ddp)

Mitten in ... Bensersiel Super! Eine Woche an der Nordsee: durchatmen, Füße aus dem Strandkorb strecken und Fisch essen. Soweit zumindest der Plan, dem die Realität eines Kurortes nur in Teilen entspricht. Gute Luft - gibt es tatsächlich. Strandkorb - gibt es gegen gesalzene Gebühren. Aber Fisch? Mangelware. Auf dem Teller liegt grundsätzlich ein brauner Krusti, in dessen Innerem eine geschmacksneutrale weiße Masse daran gemahnt, dass Meerestiere unbedingt durch das Washingtoner Artenschutzabkommen vor dem Frittieren bewahrt werden müssen. Der Fisch, so scheint es, kommt in der Nordsee endemisch nur als Wiener Schnitzel verkleidet vor, statt Schuppen trägt er eine Haut aus Mehl und Ei. Zum Glück gibt es auch einen Italiener. Der macht es sicher wie in seiner Heimat und träufelt nur Öl und Zitrone dazu. Lachsfilet steht auf seiner Karte. Und darunter, fett gedruckt: mit Käse überbacken. Jochen Temsch, SZ vom 10./11.7.2010

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(Foto: apn)

Mitten in ... Berlin In diesen Tagen denkt man nicht an Heizungen. Man denkt an Eis, an Wind und an die richtige Straßenseite, die im Schatten liegt. Es gibt jemanden, der denkt auch bei 37 Grad an Heizungen, vor allem an die intakte Verrohrung am Heizkessel. Er steht um Punkt halb sieben am Morgen vor der Tür und klingelt. Wer da? Der Schornsteinfeger, ruft er zurück. Die Sonne knallt bereits ins Zimmer, gerade eben hat man schon wieder angefangen zu schwitzen. Der Schornsteinfeger aber, der harte Hund, trägt schwarz und nicht zu knapp. Ist das nicht heiß? Er antwortet nicht, lacht auch nicht, sagt nur: "Ham Se mal 'nen Stuhl? Ich muss da rauf." Wann er eigentlich anfängt zu arbeiten? Ist wohl auch keine lustige Frage. Er sagt: Das liegt an ihnen. Der Termin steht schon länger, den hat man ja wohl angekündigt. Ach so, vielleicht ist die Uhrzeit im Hirn ja geschmolzen, denkt man. Dominik Stawski, SZ vom 10./11.7.2010

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(Foto: getty images)

Mitten in ... Oberammergau Lange Haare, zottliger Bart - den Herren werden wir gleich auf der Bühne sehen, die Frisur verrät seinen Part bei den Oberammergauer Passionsspielen. Ein halbes Dorf hat sich dafür eine Hippiemähne wachsen lassen und während die Zuschauer langsam zur Festhalle strömen, an Kartons voller druckfrischer Bibeln vorbei, sieht man sie plötzlich überall: egal, ob mit Stirnband und Heavy Metal-T-Shirt, oder mit Müllbeutel in der Hand - die Haarpracht ist immer die selbe. Auch in der Pause bleibt man in Gesellschaft: Gegenüber isst ein Jünger Spinatnocken, weiter hinten nimmt Jesus selbst sein vorletztes Mahl ein, und auch Maria Magdalena guckt kurz vorbei. Nur der Wirt scheint von all dem unberührt. Kurze Haare, glatt rasiert legt er die Rechnung vor. Ob er sich die Passionsspiele schon mal angeguckt habe? Hat er, nur von der anderen Seite: Er ist Pontius Pilatus, der Römer. Laura Weißmüller, SZ vom 10./11.7.2010 Jesus-Darsteller 2010: Frederik Mayet (l) und Andreas Richter

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