Marokko:Tüüt Tüüt - Mit dem Uno durch den Hohen Atlas

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„Immer schön in der Mitte fahren und bloß nicht ins Tal schauen.“ Ein Reisebericht über das Dades-Tal und seine Omelettes.

Jonathan Fischer

Die marokkanische Wüste: Eine Seelenlandschaft - nackt, schockierend und voller religiöser Urahnungen

Atlasgebirge (Foto: Visipix)

An jeder Passbiegung ein Déjà- vu: Rotznasige Schulkinder, Jungs in durchgescheuerten Fußballtrikots, Kaftan bewehrte Familienväter springen auf das in der Hitze flimmernde Asphaltband. Während einer von ihnen in Richtung Touristenauto gestikuliert, klappt sein Kompagnon ein überdimensioniertes Überraschungsei auf.

Großes Blitzen und Funkeln! Einmal grün, an der nächsten Kurve wieder rot. "Laserkanonen", folgert Paul mit dem ihm eigenen Erstklässlerwitz. Die Leuchtfarbe ist so intensiv, dass man instinktiv erst einmal die Augen schließen muss. Blickt man wieder auf, erkennt man in den vermeintlichen Lichtwaffen aufgeschlagene Edelstein-Drusen. Hohlspiegel, die die Strahlen der Wüstensonne auf unzähligen kleinen Kristallzähnen reflektieren. Und nebenbei ein bisschen Cashflow in die umliegenden Berberdörfer lenken sollen.

Sein und Schein

Wie diese wunderlichen Steine denn hießen? Malachit radebrecht ein Dreikäsehoch durchs Autofenster, Amethyst nennt es sein Onkel an der nächsten Straßenecke. Paul, Inhaber einer kleinen Mineraliensammlung auf dem Rücksitz, glaubt, es müssten Rubine sein. "Weil sie doch rot sind".

Aber vielleicht haben ja Namen nichts zu bedeuten in einer Kulisse, die stets zwischen Schein und Sein changiert. Die eine Unzahl rätselhafter Metamorphosen durchmacht mit dem Lichteinfall vom fahlen Morgendämmer bis zur orange sich über die Bergkuppen ergießenden Abendsonne; und die nur auf Landkarten und Urlaubsfotos ein trügerisch greifbares Gesicht annimmt.

30 Kilometer östlich der rotgeziegelten Märchenstadt Marrakesch war mit der ersten Bergkurve Richtung Ouarzazate ein Technicolorfilm vor der Windschutzscheibe angelaufen: Gelbe Weizenfelder neben sattgrünen Wiesen, blühender Oleander an Ockerlehm und in der Ferne die Schneekappen des Hohen Atlas.

Was die Jungs da allerdings durch die Luft schwenken, das wirkt wie Leuchtreklame in einem August-Macke-Bild. Eine Fälschung? Nachgebesserter Farbenrausch? Inmitten all dieser Naturwunder ist man bald geneigt, so gut wie alles für möglich zu halten. Einzig der Benzinstandsanzeiger unseres Fiat Uno sorgt für einen schnöden Restbestand von Realität: Die nächste Tankstelle liegt knapp 50 Kilometer westlich, 50 Kilometer eng gewundene Passstraße. Zudem werden die Wolken mit jeder Biegung undurchdringlicher.

Falsche Farben

Schneefelder am Straßenrand oder tief hängende Nebelfetzen? Bald ist der Mittelstreifen kaum noch sichtbar und entgegenkommende Fahrzeuge sind allein am Motorengeräusch auszumachen. Im Schritttempo geht es den 2260 Meter hohen Tizi-n-Tichka-Pass hinauf. Eine Karawane Wüstenreisender im grauen Nieselregen. Das hätte man auch daheim haben können! Bis der Schleier plötzlich aufreißt, den Blick frei gibt auf eine breite, von Gemüsegärten und Hirsefeldern gesäumte Gebirgsschlucht.

Bunte Wäschestücke kleben zum Trocken auf den Felsen, zwischen Ziegenherden und Lehmhütten leuchtet uns die arabische Version des Coca-Cola-Zeichens entgegen. Einladung angenommen! Die Dorfkneipe hat keine Speisekarte, doch es gibt sowieso keine Alternativen: Dreimal Omelette plein. Schön fettig ausgebraten und mit Kreuzkümmel gewürzt.

Die vegetationslose Hochebene glüht im warmen Ocker-Glanz der Spätabendsonne, statt Edelsteinen halten Kinder nun am Schwanz baumelnde Wüstenleguane in die Fahrbahn. Der Tankanzeiger steht auf Reserve, als der Wagen endlich in die Vororte von Ouarzazate einrollt.

Wüste als Filmkulisse

Nichts als eine Ansammlung von flachen Lehmhäusern und hässlichen Verwaltungsgebäuden. Wäre da nicht diese Beleuchtung: Vom grünen Palmenband, das entlang eines Wasserlaufs die Steinwüste durchschneidet, bis zu den bizarr ins Blaue ragenden Felsgetümen des Atlas riecht es hier gewaltig nach Filmkulisse.

Zu stimmig, um wahr zu sein. Oder sind es bloß im Kopf geisternde Kino-Landschaften, die hier plötzlich in einen Taumel des Wiedererkennens geraten? "Atlas Filmstudios" verkündet ein großes Schild. Gleich neben der Straße umgrenzt eine Lehmmauer mit Burgzinnen das Studiogelände. Die übermannshohen Figurenpfeiler am Eingang sind ägyptischen Pharaonenstatuen nachempfunden. Dahinter verbergen sich ein abgewrackter Düsenjet, in Stein gehauene Löwen und ein kleines Hotel mit Pool.

Wer jetzt noch nicht ehrfurchtsvoll die Luft anhält, den erinnert spätestens der Parkplatzwächter an die Prominenz des Ortes: Teile von Martin Scorseses "Kundun" seien hier gedreht worden, wie auch die Landschaftsaufnahmen zu "Asterix und Cleopatra". Braucht man wirklich die Führung durch Studios und Requisitenkammern?

Wüstenneurosen

Schließlich ist die Hauptattraktion aller hier entstandenen Filme kostenlos und für alle zugänglich: Die marokkanische Wüste. Wer verstehen will, was Filmregisseure an diesen Ort zieht, muss sich einen Satz von Jorge Luis Borges ins Gedächtnis rufen: "Die Wüste ist das schrecklichste Labyrinth". Eine Seelenlandschaft, nackt, schockierend und voller religiöser Urahnungen. Kein Wunder, dass die Menschen in den hier gedrehten Filmen entweder in sich zurückkehren oder aber verrückt werden.

Da ist man froh, wenn wenigstens die örtliche Hotellerie mögliche Wüstenneurosen höchst komfortabel auffängt. Busladungen europäischer Rentner defilieren durch die Dattelhaine den Eingängen von Club Med&Co entgegen. Auf einem kleinen Hügel im Stadtzentrum hält das "Kenzi Azgho" den besten Aussichtsplatz der Stadt.

Von der weitläufigen Panoramaterrasse aus liegen Oase, Stadt und Atlas-Gebirge da wie ein aufgeschlagenes Bilderbuch. Dank der klaren Wüstenluft reicht der Blick hunderte von Kilometern ins braunviolett schimmernde Ibel Sarhro Massiv hinein.

Fortschreitende Assimilation

Zu stimmig, um wahr zu sein: Die Mauern der Wüstenoasen beschränken die unendliche Weite. (Foto: Foto: Visipix)

Durch das Dades-Tal: Prächtige Kasbahs schmücken Dörfer, einheimische Stoffe und Henna-Tattoos die Touristinnen.

Braun und blau - kaum eine Touristin, die nicht ein simplicol- gefärbtes Berbertuch um Kopf oder Hüfte gebunden hätte. Reiner Farbzauber? Oder symbolisiert der tiefblaue Stoff, dessen Farbe nach der ersten Wäsche sowieso restlos ausblutet, etwa den Wunsch, einer fremden und undurchdringlichen Welt anzugehören? Na ja, vielleicht spricht es auch nur für das Geschick der örtlichen Händler: Wer sich da nicht genügend wehrt, findet sich als Touristin schnell von einem blauen Tuch um den Kopf und allerlei Schmeicheleien eingewickelt. Mit fortschreitender Assimilation kommen dann noch Henna-Tattoos auf Händen und Füßen dazu.

Parallel zur Palmen-Oase zieht die Asphaltpiste einen schwarzen Strich durch das Dades-Tal. Einige Kilometer östlich von Ouarzazate blendet ein geradezu unwahrscheinliches Glitzern. Ein Süßwassersee hier mitten in der Mondlandschaft? Wer sich dem Wunder auf einer unbefestigten Straße nähert, staunt, wie viel Wasser seit dem Frühjahr verdunstet oder in die Swimming Pools der Hotels geflossen sein muss.

Weit vorgelagerte Salzkrusten und auf dem Trockenen liegende Stege verraten die ursprünglichen Uferlinien. Auch der Dades macht seinem ausladenden Kiesbett kaum Ehre. In wie viel Dörfern wohl die schmutzigen Hosen durch sein Rinnsal gezogen wurden, bis es einer grünbraunen Waschbrühe gleicht?

Majestätische Bergkulissen

Allein den burgähnlichen Lehmbauten scheint die trockene Jahreszeit zu bekommen. Kurz vor Skoura hat ein Geschäftsmann aus Casablanca eine der alten Kasbahs originalgetreu restauriert und bietet nun Übernachtungen im Turmzimmer mit Schießscharten-Fenstern. "Von wo haben die Feinde angegriffen?" will Paul wissen. Die Handwerker sind immer noch damit beschäftigt, die Schäden des Frühjahrsregens an Dachzinnen und Stuck auszubessern.

Eine Arbeit, die oft den gesamten Sommer in Beschlag nimmt. Womöglich, so hofft der Jungunternehmer, des ausgestorbenen Möchtegern-Hotels, könnte ja die historische Nachbarschaft Besucher anziehen. Einen zehnminütigen Spaziergang durch den Palmenhain entfernt, erhebt sich die berühmte Kasbah vor einer majestätischen Bergkulisse. Nach längerem Klopfen öffnet ein alter Mann die Holztür des Seitentrakts: Ihr wollt die Burg sehen? Kein Problem. Von Pauls Neugierde angestachelt holt er beim Rundgang durch kühle Lehmgemäuer und baufällige Dachterassen gewaltig aus. Kein verrosteter Teller, kein liegengebliebener Löffel, der nicht einer ausschweifenden Geschichte würdig wäre.

In Boumalne durchquert die Straße in einer tiefen Senke das Dades-Tal. Am Rande des Steilufers, etwas außerhalb der Stadt, verschmilzt ein weitläufiger Lehmbau-Komplex farblich mit der umgebenden Steinwüste: Kasbah Tizzarouine.

Von hier oben schweift der Blick über die enge, grüne Schlucht zu den Gipfeln des Irhil M'Goun. Ein gutes Dutzend Höhlenzimmer bieten Menschen ohne Platzangst heimelige Übernachtungsmöglichkeiten. Fünf davon sind natürliche Grotten und waren früher von Nomaden bewohnt. Paul findet es allerdings wüstenräuber-mäßiger, in einem der Nomadenzelte im Hof zu übernachten: Viele Lagen Teppiche auf dem Boden und die bunt bestickten Decken haben ihren Grund - mit Sonnenuntergang weht ein kalter Wand über die Hochebene. Die Idee mit dem Sternenblick ist bald vergessen. Lieber den dünnen Filzvorhang am Eingang mit Sicherheitsnadeln verschließen.

Störche auf dem Minarett

Anstatt auf der Hauptstraße Richtung Tinerhir zu schnurren, zuckelt der Uno anderntags durch knöcheltiefe Krater die Dades-Schlucht hinauf. Ait- Youl, Ait-Ali, Ait-Oudinar: Fast jedes Dorf schmückt eine prächtige Kasbah und wenn nicht, dann nisten zumindest Störche auf dem Minarett - direkt über den Lautsprechern des Muezzin.

Mit steigenden Höhenmetern nehmen die Berghänge immer schroffere Formen an: "Versteinerte Hände" ruft Paul, und liegt nur knapp daneben. Die Einheimischen, so verrät ein in der Mittagssonne dösender Schmuckverkäufer, nennen die zerklüfteten, von zahlreichen Rissen durchzogenen Felsvertikalen "Affenfinger".

Und während der Mann einen Pfefferminztee für seine Gäste aufbrüht, können wir erstmals unbehelligt von den üblichen Verkaufsgesprächen - "good price my friend, where you come from?" - Silberdöschen, Schmuckdolche und Armreifen befingern.

Die Straße, freut er sich, sei erst letztes Jahr geteert worden. Jetzt passierten täglich mehrere Busladungen Touristen die an ihrer schmalsten Stelle gerade mal vier Meter breite Schlucht. Kurz nach dem Nadelöhr verlässt die Straße das Flussbett und schraubt sich auf gut 2000 Meter hoch.

Immer schön in der Mitte fahren und bloß nicht ins Tal schauen: Für Seitenbefestigungen hat das Straßenbau-Budget scheinbar nicht mehr gereicht. Aber dann lässt sich auf 20 Kilometern sowieso kein Auto, kein Mensch, kein Maultier blicken - erst in Zaouia-Sidi leuchten uns zwei neonfarbene Rennrad-Anzüge entgegen: Von gut gewürzten Omeletts schwärmen die Mountainbiker im breitesten Oberösterreichisch, "aber mitm Wirt müassts aufpassn". Was man sich so zuraunt unter Ahnungslosen.

Der Bergkristall-Trick

Die Schluchten des Dades-Tales. (Foto: Foto: Visipix)

Sein und Schein bleiben auch nach 400 Kilometern Wüste und unzähligen Verkaufsgesprächen ungeklärt.

Das Omelett sollte das Beste der ganzen Reise sein - Vergleichsmöglichkeiten boten sich dreimal täglich. Über den Nachsatz grübeln wir noch, als der Wirt sich erbietet, uns auf einem Spaziergang durchs Dorf zu begleiten. Hier ende die Asphaltstraße, jede Weiterfahrt sei nur mit Vierradgetriebe und, wichtiger noch, einem einheimischen Führer ratsam. An Tourismus erinnert in dem Berberdorf bestenfalls ein handgekrakeltes "Auberge"- Schild. Die Bäckerei - genauer: die Backhöhle - verbirgt sich hinter einem Lumpenvorhang, der Bäckersgehilfe zieht im Halbdämmer aus einem Ofenloch die warmen Fladen hervor.

Labyrinth aus Lehmmauern

Während unser Führer alle Fragen beantwortet, die wir nie gestellt hatten, insbesondere Wegelagerer in den Bergen, verdrehte Straßenschilder und absichtlich gegrabene Pannenlöcher betreffend, folgen wir ihm auf Trampelpfaden durch Hinterhöfe und aufgelassene Gärten. Auch dann noch, als wir durch ein Labyrinth aus Lehmmauern und Schutt staken.

Am Boden der offenbar schon lange verlassenen Häuser-Ruinen liegen Plastikdosen und Knochen. Uringeruch steigt auf. Hätten wir lieber auf die Österreicher hören sollen? In Paul Bowles düsterer Kurzgeschichte "Eine ferne Episode" vertraut sich ein Linguistik-Professor aus dem Westen einem Unbekannten in einem marokkanischen Cafe an. Der Lotse führt ihn immer tiefer in die Wüste hinein - dorthin, wo die westliche Psyche hilflos in sich zusammenfällt. Dem Professor wird die Zunge herausgeschnitten.

Hassan Steilpass! Oder so ähnlich. Ein paar Fußball spielende Buben in Bayern München Trikots jedenfalls kicken die Bowles-Geschichte aus dem Kopf. Und statt allein in der Wüste finden wir uns in der Stube des örtlichen Friseurs wieder.

Insh'allah! All diese Umwege nur für einen Haarschnitt? Es duftet nach Rosenwasser. An der Wand Wildbach, Alm und Enzian, ein gerahmtes Kalenderbild aus den Schweizer Alpen. Ein halbes dutzend Berber blinzeln uns freundlich entgegen und füllen Pauls Taschen mit allerlei Zuckerzeug. "Salam" seufzt eine innere Stimme. Mal wieder zu viel auf die Klischees aus den Marokko-Märchen gegeben.

Rückweg Richtung Marrakesch

Während die Kundschaft auf den Wartestühlen mit den Gebetsketten klappert, lässt der Friseur seine rosa Plastikschere wie in Trance über das Kopfhaar fliegen. Zehn Minuten - länger braucht der Mann nicht für einen perfekten Flat Top. "Jeder zahlt, was er sich leisten kann", hatte unser Führer zuvor erklärt. Tatsächlich, hier ist die Ortsgemeinschaft unter sich, die Hand mit dem Salär bleibt fest geschlossen.

Auf dem Rückweg Richtung Marrakesch: 400 Kilometer Wüste und unzählige Verkaufsgespräche haben ihre Wirkung getan. Die Neugier besiegt endlich die Vernunft: "Können wir den Stein auch tauschen?" Der Verkäufer im abgerissenen Kaftan erzählt etwas von vielen Kindern und deutet dann auf Pauls Schuhe. Nein, pardon, die sind gerade erst in Marrakesch erworben.

Schließlich einigt man sich auf einen kleinen Berg aus Kugelschreibern, T-Shirts, Socken und Schokoriegeln: Endlich haben wir ihn, den mysteriösen roten Leuchtstein - das künftige Schmuckstück von Pauls Sammlung. Glauben wir. Pauls Finger sind bald rot, die Spitzen der Kristalle dafür zunehmend farblos. "Bääh, das ist ja Bergkristall", mault er. Okay, Bowles hatte wohl Recht: Die Dinge sind nicht das, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Ob der gute Mann aber auch den Bergkristall-Trick mit der Lebensmittelfarbe kannte?

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