Kriminalität:Viertel mit Szene

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Die Bahnhofsgegend, der Empfangsraum der Stadt, hat einen üblen Ruf. Der Kiosk-Betreiber Nazim Alemdar lebt und arbeitet trotzdem gern dort. Er schätzt das Zusammenleben in dem Quartier.

Von Susanne Höll

An einem trüben Januartag steht ein Polizeiwagen an der Kreuzung, an der sich die Münchner Straße und die Elbestraße treffen. Zwei Uniformierte befragen eine ältere Frau und einen jüngeren Mann, kontrollieren die Papiere. Beide sprechen nur gebrochen deutsch. Ein zweiter Wagen rollt an. Verstärkung. Es geht um einen goldfarbenen Ring, ein Schmuckhändler hat die Polizei gerufen, irgendetwas stimmt nicht. Nach einigem Hin und Her und ein paar Mahnungen lassen die Beamten das Paar ziehen. Nichts Schlimmes, ein kurzer Routineeinsatz im berühmten wie auch übel beleumdeten Frankfurter Bahnhofsviertel.

Um die Ecke kommt ein kräftiger Herr gesetzten Alters. Ein Geschäftsmann, genauer gesagt, weit über die Quartiergrenzen hinaus bekannt wie ein bunter Hund. Nazim Alemdar ist der Chef eines zum KultTreff mutierten Kiosks direkt neben dem fraglichen Schmuckgeschäft und einer derjenigen, die das Bahnhofsviertel so gut kennen wie ihre eigene Hosentasche.

Zu viele "Kanaken", schimpft der Kunde. "Soll ich meine Koffer packen?", fragt der Chef

1978 kam er als junger Mann aus Ankara nach Deutschland, besuchte seinen Vetter, der hier eine Stelle als Assistenzarzt gefunden hatte. Einen kurzen Urlaub hatte der Bäckermeister geplant - jetzt ist er schon fast 40 Jahre in Frankfurt, ein Bahnhofsviertler, wie er selbst mit Stolz sagt. Ein Botschafter und ein, wenn man so will, guter Geist der bunten, oft grellen, quicklebendigen, an manchen Stellen sehr verstörenden und insbesondere von Drogenkriminalität geplagten Meile nahe der Innenstadt. Die Gegend ist Ausgehviertel, Rotlichtbezirk, urbaner Schmelztiegel von Menschen aus mehr als 100 Nationen, interessant inzwischen für wohlhabende Mieter und Luxus-Investoren. Und für Ordnung im Quartier muss inzwischen das größte städtische Polizeirevier sorgen.

"Angst im Viertel?" Alemdar nimmt seine Brille ab und zuckt mit den Schultern. "Man hat nur Angst vor Dingen, die man nicht kennt. Ich hab hier nie Angst gehabt", beantwortet der 60-Jährige seine eigene Frage. Er kann sich nicht erinnern, dass er je die Polizei in den Laden rufen musste. Der Kiosk heißt Yok Yok, was übersetzt lautet: "Gibt's nicht - gibt's nicht". 300 Sorten Bier hat er in dem kleinen Geschäftsraum stehen, Süßigkeiten und Apfelringe, Sonderwünsche werden, wenn man freundlich bittet, auch erfüllt. In Sommernächten stehen die Leute Schlange vor dem Laden. Ein winziges Hinterzimmer dient als Ausstellungsraum für Kunstwerke aller Art. Im Dezember präsentierte Alemdar Porträts von Frankfurter Drogensüchtigen. Die leben und leiden im Bahnhofsviertel, etliche Anwohner wären die Szene mitsamt der Dealer und anderen Kriminellen gern ganz los.

"Die Süchtigen sind krank, sie sind keine Verbrecher. Ihnen muss man helfen", sagt Alemdar. Er ist ein liberaler Geist mit viel Geduld, der sich nicht provozieren lässt. Neulich kam ein junger Mann ins Yok Yok, er wollte Zigaretten, ein paar Bier hatte er schon intus. Er führte Klage über die vielen "Kanaken" im Viertel, die sollten doch am besten fort aus Frankfurt. "Soll ich jetzt also meinen Koffer packen", fragte Alemdar zurück. Der junge Mann war verstört, befand, der Kiosk-Chef sehe überhaupt nicht aus wie einer aus der Fremde und ging schweigend seiner Wege. So regelt Alemdar gern Konflikte im Bahnhofsviertel. Natürlich lässt sich nicht alles so friedlich beilegen.

Wer Heroin auf der Straße vertickt oder die Teufelsdroge Crack, reagiert nicht auf gutes Zureden. Die Chefs der Dealer schon gar nicht, aber die laufen auch nicht im Viertel herum. Nicht wenige Anwohner sind das Elend auf den Straßen leid, den Schmutz, die ausgemergelten Süchtigen, die an den Ecken auf Dealer warten oder darauf, dass die Drogenhilfe ihre Türen öffnet. Die Sicherheit im Quartier und auch im Bahnhof selbst wurde in jüngster Zeit wieder zum gesellschaftlichen und politischen Thema. Kein Wunder, schließlich steht Ende Februar die nächste Oberbürgermeisterwahl an, im Herbst wird in Hessen ein neuer Landtag gewählt.

Nach einem eigentümlichen öffentlichen Disput verständigten sich Frankfurts SPD-Stadtoberhaupt Peter Feldmann und der hessische Innenminister Peter Beuth von der CDU auf die Schaffung einer neuen Polizeidienststelle mit fast 130 Beamten, die die Ereignisse im Blick haben und mit den blau gestreiften Wagen im Viertel präsent sein sollen. Der Anwohner, aber auch der Touristen wegen, die gern in den Hotels direkt am Bahnhof absteigen. Das Quartier hat sich sozusagen zum Empfangsraum Frankfurts gemausert.

Ist es inzwischen besser geworden? Die Polizei meldet Erfolge im Kampf gegen Trickdiebe und Handtaschenräuber. Die Stadtreiniger kommen öfter, Alemdar sagt, es sei sauberer geworden im Viertel. Er sieht die Debatte über die Sicherheit mit Skepsis. Gegen mehr Schupos auf den Straßen sei nichts einzuwenden. Aber man solle auch nicht übertreiben. "Die Dinge hier sind nicht schlimmer geworden", sagt er.

Der Vater zweier Kinder sorgt sich um ganz andere Dinge. Um den Erhalt des besonderen Flairs im Bahnhofsviertel, das noch vor nicht allzu langer Zeit so verrufen war, das man dort nicht wohnen mochte und traditionelle Supermärkte ihre Pforten schlossen, mangels Kundschaft. Er wisse von Immobilieneigentümern, die ihre Häuser nicht mehr instand halten wollten, in der Hoffnung, sie zu stattlichen Preisen an Luxus-Sanierer zu verkaufen, sagt Alemdar. Wenn sich Wohlhabende und Firmen ausbreiteten, gingen die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte im Viertel verloren. In anderen Stadtbezirken seien in den Abendstunden bekanntermaßen kaum noch Leute unterwegs. Stimmt.

Selbst im Urlaub plagt ihn Heimweh nach dem Quartier, in dem jeder jeden kennt

Milieuschutz sei nötig für die Gegend. Und vor allem ein städtischer Kindergarten für die ansässigen Familien. Er schätzt das Zusammenleben in dem Quartier. "Hier kennt jeder jeden, man kümmert sich umeinander", sagt er. Dass keine Nation, geschweige denn ein sozialer Stand das Straßenbild prägt, findet er wunderbar: "Hier gibt es keine einzige dominante Minderheit." Und zum Flair der Gegend gehörten eben auch die Bordelle und die Leute der Drogenszene, die bei den Hilfsorganisationen rund um den Bahnhof ihre traditionellen Anlaufstellen hätten.

Alemdar, der sich auch im Vorstand des Gewerbevereins Bahnhofsviertel engagiert, ist nicht der Eigentümer der Kioskräume. Bislang ist der Mietvertrag noch immer verlängert worden. Im Dezember hat er in der Innenstadt, nicht weit vom Dom entfernt, ein Kunst-Café eröffnet, eine Dependance, sozusagen. Was passiert eigentlich, wenn doch einmal Schluss sein sollte mit dem Yok Yok? Er setzt wieder die Brille ab, reibt sich die Augen. Er könne nicht ohne das Bahnhofsviertel leben, selbst im Urlaub habe er Heimweh danach, sagt er. "Meine Kinder lachen immer, wenn ich das sage. Aber falls ich den Laden zumachen muss, setze ich mich dort an den Straßenrand und arbeite als Schuhputzer."

© SZ vom 26.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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