Kanada:Nur keine Ruhe

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In den Selkirk-Bergen bietet ein Schweizer Veranstalter von einem Chalet aus strapaziöse Wandertouren an. Die Gäste genießen das - und haben ein bisschen Angst davor.

Von Bernadette Calonego

Der Hubschrauberpilot sagt noch: "Bitte keinen Blitz bei den Fotos." Dann hebt der Helikopter ab, gewinnt schnell an Höhe und trägt die Passagiere weg von der Ortschaft Revelstoke, raus aus dem bewaldeten Bergtal, an steil abfallenden, felsigen Flanken entlang, über exponierte Kämme, Bergseen und einen gigantischen, schrundigen Gletscher. Zehn Minuten dauert der Flug bis zum Gletscherchalet von Ruedi Beglinger auf 1946 Metern Höhe; es ist nur auf dem Luftweg erreichbar. Beglinger hat das Refugium in den Selkirk-Bergen in der kanadischen Provinz British Columbia vor 20 Jahren selbst gebaut und es geschafft, Wander- und Skitouren-König in 96 Quadratkilometern hochalpiner Wildnis zu werden.

Über Funk ist Beglingers Stimme zu hören, unverkennbar mit seinem kratzigen Schweizer Akzent. Im Helikopter antwortet ihm seine in Hamburg geborene Frau Nicoline auf Deutsch. Die Passagiere erstaunt das nicht. Sie haben schon im Internet den Werbespruch der Beglingers gelesen: "European hiking without going to Europe." Europäisches Wandern, ohne nach Europa zu reisen.

Die Gäste hören Sätze wie: "Du kannst ausruhen, wenn du 90 bist und schlafen, wenn du tot bist."

Der Flug endet an einem Berghaus, das den nordamerikanischen Gästen sehr europäisch erscheinen muss: rote Fensterläden, rotweiß-karierte Gardinen und Geranien in Blumenkästen. Die Aussicht dagegen ist kanadisch: Bergkette reiht sich an Bergkette am Horizont, alles wirkt größer und weiter als in den Alpen. Keine einzige Siedlung in den Tälern, auf den Almen weder Schafherden noch Hirtenhunde, keine Seilbahnstationen, kein Flugzeuglärm. Nur Natur, soweit das Auge reicht.

Malerisch: Das Durrand Glacier Chalet ist das Herzstück von Ruedi Beglingers Reich. (Foto: www.selkirkexperience.com)

Eingeweihte wissen bereits, dass sie hier gleichermaßen Strapaze und Seligkeit erwartet. Bergtouren mit den Beglingers sind nichts für Weicheier. Nicoline, Anfang 50, grazil und athletisch zugleich, mit einem warmen Lächeln und Schalk in den Augen, erklärt dem Dutzend Gäste die Hausregeln: Frühstück um acht, Vier-Minuten-Duschen im Nebengebäude, bitte nicht ständig E-Mails abfragen, Wein kann man in Flaschen kaufen. Ruedi Beglinger ist heute nicht zu sehen.

An den insgesamt drei Chalets gibt es schließlich ständig etwas zu tun, das dritte wurde erst im vergangenen Jahr fertiggestellt, als Ausgangspunkt für Gletschertouren. "Das ist es, was Männer machen, wenn sie 60 werden", sagt Nicoline Beglinger mit einem Augenzwinkern. Den Grundstein dafür hat ihr Mann allerdings schon vor drei Jahrzehnten gelegt. Zunächst genehmigte die Regierung von British Columbia 1985 den Bau von zwei Berghütten; 1994 pachtete Beglinger das riesige Gebiet von der Provinz British Columbia zur exklusiven Nutzung, nachdem er ein Konzept für den Bau eines Berghauses und die nachhaltige touristische Nutzung der Wildnis vorgelegt hatte. Heute verfügt der diplomierte Ski- und Bergführer aus dem Schweizer Kanton Glarus über drei Chalets an verschiedenen Standorten, in einem Areal mit 26 Gipfeln, 14 Gletschern, 58 Skitouren-Routen und 90 Kilometern Wanderwegen. Beglinger, den die Gäste bewundern und den manche auch ein bisschen fürchten, ist bekannt für Sprüche wie: "Du kannst ausruhen, wenn du 90 bist, und schlafen, wenn du tot bist." Nordamerikanische Zeitschriften bezeichneten ihn schon als den "Super-Bergführer", einen Mann für Hartgesottene und Masochisten, der seine Kunden bis an ihre Grenzen fordere.

Der Schweizer Bergführer hat sein Areal in den Selkirk-Bergen von der Regierung British Columbias gepachtet und in eine Attraktion verwandelt. (Foto: www.selkirkexperience.com)

Ein ungeduldiger, manchmal grantiger Zuchtmeister sei er. Andererseits wird auch sein "gewinnender und komplexer Charakter" gerühmt. Für amerikanische Gemüter ist Beglinger ein fast autokratischer Truppenleiter in der Tradition der europäischen Bergführer, stoisch und stolz. Eine kanadische Zeitung nannte ihn einen "Mozart der Berge". Dank eines Artikels in der Washington Post ist sein Ruf bis in die US-Metropolen gedrungen. Beglinger erklärt meist nicht viel und erwartet von seinen Tourensportlern, dass sie einfach nachmachen, was er tut: essen, wenn er isst, pinkeln, wenn er pinkelt. Manche Gäste, so wird an den Tischen des Durrand-Glacier-Chalets erzählt, trainierten vorher hart, um mit Beglinger mithalten zu können. Und dann seien sie erstaunt, wenn sie kein Muskelpaket wie Arnold Schwarzenegger antreffen, sondern einen eher drahtigen Sechzigjährigen, der es den Jüngeren aber immer noch vormacht.

An diesem sonnigen Tag hat jedoch seine Frau Nicoline Beglinger Dienst. Die Gäste stellen ihr Gepäck in die Zimmer - kein Massenlager gibt es, dafür Daunendecken - und dann geht es gleich zügig los. Ein kurzer Abstieg von der Felskuppe, auf dem das Berghaus und das private Heim der Beglingers stehen. In einem Hochgebirgstal führt der Weg an zwei Bächen entlang und einen steilen Abhang hinauf. Eine hochalpine Welt von überwältigender Schönheit tut sich auf: Weiter oben glitzert der Gletscher in der Sonne; auf dem Grat äugt eine Schneeziege auf die Gruppe herunter, Murmeltiere verschwinden pfeifend in Erdlöchern.

Sein Leitsatz ist Programm: "Nur an seinen Grenzen lernt man sich selbst kennen." (Foto: www.selkirkexperience.com)

Nicoline Beglinger, Spross der einstigen Hamburger Reederfamilie Woermann, lernte ihren Mann während eines Skiurlaubs hier oben kennen. Sie war keine geborene Bergsportlerin. Ihre aus Deutschland stammenden Eltern errichteten im Fraser-Tal bei Vancouver eine Farm, auf der die drei Töchter mit deutschem Roggenbrot und Bierwürsten aufwuchsen. Und mit Werten wie Gemütlichkeit, Sauberkeit und Ordnung, die Nicoline Beglinger auch im Durrand-Glacier-Chalet auslebt; "Ich will nützlich und mit Arbeit ausgelastet sein. Daraus ziehe ich Freude." Das habe damals auch Ruedi beeindruckt, als sie ihm beim Schneeschaufeln vor der Hütte half. "Natürlich verlieben sich alle Frauen in den Skilehrer", hatte Nicoline Beglingers Vater bemerkt, "sie wird schon davon loskommen." Der Vater irrte: 1990 fand die Heirat statt. Ihre beiden Töchter zogen die Beglingers in den Selkirk-Bergen auf. Inzwischen sind diese erwachsen und studieren in Vancouver.

Die Gäste sind nun Nicolines Ersatzfamilie. Am nächsten Tag kehren die Wanderer von einer Sieben-Stunden-Tour zu Gletschern, Gipfeln und Bergseen zurück. Einige von ihnen sind über sich hinausgewachsen, haben sich über einen exponierten Grat getastet, eine steile Felswand überwunden, Schmerzen in den Knien ausgehalten, in der Höhe nach Sauerstoff gelechzt. Zwei Frauen stürzten sich zum Schwimmen in einen eiskalten Bergsee. Andere fragen sich, ob sie sich zu viel zugemutet haben.

Für die Schmerztherapie ist abends der aus Österreich stammende Spitzenkoch Engelbert Unger zuständig. Unger hat jahrelang in St. Moritz gearbeitet und präsentiert nun das Menü zur Behebung des Kaloriendefizits: Gegrillte, butterzarte Hühnerbrüstchen und Zabaglione zur Nachspeise. Soll ja bloß keiner behaupten, Leistung und Ausdauer werden in den Selkirk-Bergen nicht belohnt. "Nur an seinen Grenzen lernt man sich selbst kennen", sagt Beglinger in guter Truppenleiter-Tradition. Und so bemühen sich alle mitzuhalten. Der Koch sagt, im Winter seien die Gäste noch ehrgeiziger: "Da geht es um Höhenmeter."

Früher wurde Ruedi Beglinger, den sein Vater schon als Vierjährigen in die Berge mitnahm, noch viel stärker vom Ehrgeiz getrieben. An seine Grenzen stieß er aber im unglückseligen Winter des Jahres 2003: Während einer von ihm geführten Skihochtour in den Selkirk-Bergen kamen vier Kanadier und drei Amerikaner in einer Lawine ums Leben. Ruedi und Nicoline wollten sich nicht hinter Anwälten und PR-Büros verstecken und stellten sich ganz allein der internationalen Presse. Niemand reichte eine Gerichtsklage ein, was in Nordamerika fast einem Wunder gleichkommt. Beglingers Ruf überlebte, seine Firma Selkirk Mountain Experience auch. Nach der Katastrophe ging er auf lange Wanderungen, "um ganz tief in mich hineinzuhören". Das Gehen war seine Therapie. "Es gibt keinen Tag, an dem wir nicht an das Unglück denken", sagt Nicoline Beglinger.

(Foto: N/A)

Am nächsten Morgen verspricht sie den schwächeren Wanderern: "Heute ist der Pfad weniger exponiert." Dafür windet er sich in Serpentinen eine abschüssige Flanke hoch. Einen Fehltritt darf sich hier niemand erlauben. Unter Nicolines wachsamen Augen setzen die Wanderer Fuß vor Fuß und schauen nicht in die Tiefe. Sie überwinden die inneren Dämonen der Angst. Ruedi Beglinger würde wohl sagen: Sie lernen sich selbst kennen.

© SZ vom 25.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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