Fußball brutal:Brot und Spieler

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In Florenz geht es beim "calcio storico" archaisch zu: Fairness ist ein Fremdwort und Verletzungen sind Ehrensache.

Birgit Schönau

Von diesem anderen Turnier, dem in Deutschland, hat man hier auch schon gehört. Wo ist noch gleich das Finale? Stadio Olimpico, Berlin? Vielleicht wird Luca Toni es bis dahin schaffen, der Lokalmatador des AC Florenz und Torjäger der Nationalmannschaft. Ganz sicher aber wird Florenz nicht nach Berlin schauen. Florenz schaut auf die Piazza Santa Croce. Nur wann, das ist noch nicht ganz klar.

Die Ähnlichkeit mit Gladiatoren ist kein Zufall. Die Ursprünge des Calcio liegen im Circus Maximus. (Foto: Foto: www.2camels.com)

"Warum legt der Polizeipräsident uns diese Steine in den Weg?", klagt Alberto Lazzerini. "Das würde doch beim modernen Fußball niemals passieren!" Lazzerini ist Aktivist beim Calcio Storico Fiorentino. Auch mit dem Fußball kennt er sich aus, in der Toskana hat er Mannschaften zuhauf trainiert.

Trikots im Renaissancedesign

Fußball ist das eine. Calcio Storico ist eine andere Welt. Eine Welt und eine Meisterschaft nur für Florenz. "Wir wollen unser Finale am Johannistag austragen. Der 24. Juni ist schließlich der Namenstag des Stadtpatrons." Und nun könnte die Politik dem Calcio Storico einen Strich durch die Rechnung machen.

Ende Juni soll in Italien eine Volksabstimmung stattfinden, da wäre die traditionelle Rauferei auf der Piazza Santa Croce ganz einfach unerwünscht, weil man die Polizei für die Wahllokale braucht.

Calcio Storico hat mit Fußball ungefähr so viel zu tun wie Ben Hur mit der Formel Eins. Es handelt sich eher um eine Art Rugby, gespielt von Männern mit nackten Oberkörpern und Pumphosen, die an die Uniform der Schweizergarden im Vatikan erinnern - weil sie um die gleiche Zeit entworfen wurden. Erstklassiges Renaissancedesign.

Verletzte gehören zur Folklore

Gespielt wird auf Sand und der Ball kann mit Händen und Füßen ins Tor bugsiert werden. Gelbe oder Rote Karten sind unangebracht. Fairness ist etwas für Engländer, deshalb gibt es für das Wort genauso wenig eine italienische Übersetzung wie für Privacy.

Beim Calcio Storico treten Männer aus vier Stadtvierteln der Florentiner Altstadt gegeneinander an, "Krieger, die stets bereit sind, für die eigenen Farben zu kämpfen", wie Alberto Lazzerini es ausdrückt; nicht ohne darauf hinzuweisen, dass es beim letztjährigen Finale, das die Blauen von Santa Croce gegen die Grünen von San Giovanni 3:0 gewannen, "gar nicht so viel Prügel gegeben hat, wie wir das sonst kannten".

Dass die Laienbrüder von der "Misericordia" öfter mit der Tragbahre auf das Spielfeld rennen müssen, um Verletzte abzutransportieren, gehört zur Routine. Und eigentlich auch zur Folklore. Auf jeden Fall gehört es zum Calcio Storico.

Auch die Roten von Santa Maria Novella und die Weißen von Santo Spirito mischen mit. Die Farbenzuordnung stammt aus dem Circus Maximus im Alten Rom. Schon vor 2000 Jahren hatten dort die Wagenlenker ihre Farben, Kaiser Nero zum Beispiel war ein glühender Tifoso der Grünen.

Womöglich ist der gegen Ende des 15.Jahrhunderts erfundene Florentiner Calcio ohnehin nichts anderes als eine Wiederauflage antiker Künste, wie so vieles in der Renaissance. Schon Cäsar spielte "Harpastum", bei dem es darum ging, einen Lederball einer Horde Gegnern zu entreißen.

Für die Medici gehörte später der Calcio zum Festprogramm an hohen Feiertagen. Von Piero Medici berichtet der zeitgenössische Historiker Jacopo Nardi, er sei dem Ballspiel derart zugetan gewesen, dass er darüber sogar die Staatsgeschäfte vernachlässigt habe. Piero Medicis Ruhm als Calcio-Spieler sei so groß gewesen, "dass Spieler aus ganz Italien kamen, sich von ihm in dieser Kunst unterweisen zu lassen."

Schlachten auf dem Sportfeld

Die Florentiner spielten auf Sand oder sogar auf Eis - wenn der Arno zugefroren war, was gar nicht so selten vorkam. Sie zeigten ihren Calcio sogar in den heiligen Mauern von St.Peter in Rom, denn dort wollten die Medici auch als Päpste nicht auf ihr Vergnügen verzichten.

Das berühmteste Match fand am 17.Februar 1530 statt. Kaiserliche Truppen belagerten Florenz. Und die Florentiner - spielten Calcio. Demonstrativ. Um zu zeigen, dass sie Wichtigeres zu tun hatten. Dass ihre Lebensfreude, ihre Kampfeslust ungebrochen waren. Dass sie mit ihrem Anfeuerungsgebrüll für die Weißen oder die Roten auch den Geschützdonner zu übertönen vermochten.

Wenn auch der Fußball mit einiger Sicherheit nicht in Florenz erfunden wurde, geriet diese Partie dennoch zu einer seiner schönsten Parabeln. Das Spiel im Angesicht des Feindes als Sieg des Lebens über den Krieg, als Triumph menschlicher Kultur über die Barbarei der Schlacht, das kann den Florentinern keiner nehmen.

Die dunkle Stunde des AC Florenz

So wie sie den Calcio Storico zelebrieren, der übrigens 1930 durch die Hintertür von dem faschistischen Diktator Benito Mussolini eingeführt wurde, um der "Überfremdung" Italiens durch den schon damals weit verbreiteten englischen Football entgegenzuwirken, so hingebungsvoll leben die Florentiner auch den Fußball.

Zu keinem anderen Zeitpunkt wird die Zweiteilung ihrer Stadt in ein von Touristen überschwemmtes Freilichtmuseum und den vollkommen abgespaltenen, modernen Lebensraum derart unüberwindbar wie Sonntagnachmittag bei einem Heimspiel des AC Florenz. Dann bleiben die Touristen in den Kulissen der Altstadt und die Einheimischen ziehen ins Stadion.

Ihre Fiorentina, die die Medici-Lilie und die violette Stadtfarbe im Wappen trägt, wurde zwei Mal Italienmeister. Das ist aber schon eine Weile her: 1956 und 1969. Es wurden damals Feste gefeiert, von denen Großväter bis heute ihren Enkeln berichten. Enkeln, die ihrerseits ganz andere, noch sehr frische Erinnerungen haben. An die Schmach.

An einem heißen Augusttag im Jahre 2002 hörte der ruhmreiche AC Florenz nämlich kurzzeitig auf zu existieren. Der Klubpatron Vittorio Cecchi Gori konnte seine 44 Spieler nicht mehr entlohnen, geschweige denn zwei Dutzend Millionen Euro Schulden zurückzahlen. Er hätte seinen von einem Borghese-Papst gebauten Barockpalast in Rom verscherbeln müssen, um die Fiorentina zu retten.

Florenz erwartete genau das von ihm. Was bitteschön ist ein totes Gemäuer gegen die Fiorentina? Den Klub eines Giancarlo Antognoni, nicht einfach ein Kicker, sondern eine Erscheinung, schön und elegant wie der fleischgewordene David von Michelangelo in der Accademia? Den Verein des letzten all-italienischen Fußballers Roberto Baggio, bei dessen Weggang aus Florenz die Tifosi aus Protest die halbe Stadt anzündeten?

Die Heimat des weltläufigen Argentiniers Gabriel Batistuta, der bei seinem ersten Tor gegen seinen alten Klub Fiorentina so hemmungslos schluchzte wie ein in der Seele getroffenes Kind? Andere Kicker sammelten bloß Trophäen, diese Männer aber eroberten Kindheitserinnerungen. Wurden Helden für Generationen.

Cecchi Gori verstand das nicht. Kein Wunder, hatte er die Geschäftsstelle doch ausgerechnet an der Piazza Savonarola residieren lassen - dabei war der lustfeindliche Bußprediger Girolamo Savonarola doch der Einzige gewesen, der es geschafft hatte, den Florentinern ihren Calcio zu verbieten, bevor er wegen anderer Ketzereien von der Inquisition in die fußballfreie Abteilung des Jenseits befördert wurde.

"Ihr seid hässlicher als der Fiat Multipla!"

"Hau' Vittorio windelweich", hatten die Fiorentina-Tifosi ahnungsvoll Cecchi Goris greise Mamma Valeria in Sprechchören aufgefordert, als sich die hoch betagte Signora im Stadion blicken ließ. Es half nichts, der AC Florenz ging Pleite. Wurde in die vierte Liga relegiert. Durfte fortan nicht mehr gegen Juventus Turin und Inter Mailand spielen, sondern gegen Fuchs-und-Hase-Nester hinter den grünen Hügeln Umbriens und der Toskana.

Vierte Liga. Die Fans kauften Dauerkarten, als sei nichts gewesen. Zum Heimspiel gegen Gualdo Tadino etwa kamen 22.000 Zuschauer in das Artemio-Franchi-Stadion, und die Fankurve Curva Fiesole (die so heißt, weil man das Städtchen Fiesole hinter ihr am Horizont ahnen kann) skandierte über die Köpfe der Gualdo-Spieler hinweg unverdrossen Beleidigungen für Juventus Turin: "Ihr seid hässlicher als der Fiat Multipla!"

Man wird sich, wenn schon alles den Bach heruntergeht, ja wohl wenigstens noch seine Erzfeinde bewahren dürfen. Sprüche gegen Gualdo zu entwerfen, ist für einen Florentiner reine Zeitverschwendung. Welthistorisch gesehen.

Das Stadion von Florenz ist mit seinen knapp 30.000 Plätzen nicht etwa eine der großen italienischen Fußballopern wie das St.Paolo in Neapel, das Meazza-Stadion in Mailand oder das Stadio Olimpico in Rom. Es wirkt im Gegenteil überraschend ländlich, weil man von den oberen Zuschauerreihen weit in die Umgebung schauen kann.

Florenz kennt, anders als die genannten Fußballmetropolen, auch kein Hooligan-Problem. Die Fiorentina-Fans sind für ihre beißende Ironie bekannt. Ihrem eigenen Trainer Claudio Ranieri, der den Spitznamen "Magier" trug, rieten sie einmal lautstark: "Zauber' dich endlich selbst weg!"

Inzwischen spielt der AC Florenz wieder in der SerieA um die vorderen Plätze. Diego Della Valle, ein Lederwarenunternehmer aus den Marken, hat den Klub übernommen. Die Fans waren anfangs skeptisch - nicht nur, weil der neue Patron bekennender Tifoso von Inter Mailand war.

Der Florentiner Cecchi Gori benahm sich zwar wie ein dekadenter Renaissancefürst, hatte den Klub aber wenigstens im Blut, schon sein Vater Mario war Präsident gewesen. Della Valle hingegen verstehe nichts von Fußball und wolle mit der Fiorentina nur seine Luxus-Schuhe besser verkaufen, argwöhnten die alteingesessenen Florentiner.

Wenn der Präsident seinen Geschäftspartnern aus Japan in der Ehrenloge sein neues Spielzeug zeigte, schwieg die Curva Fiesole eisig. Auch das hat sich geändert. Zwar ist Della Valle in Florenz nicht wirklich populär - was auch daran liegt, dass er sich niemals im Bar Stadio vor den Kassenhäuschen mit der Tifoseria treffen würde, die dort über Größe und Niedergang des Calcio fachsimpelt.

Aber der Erfolg gibt dem Besitzer Recht, wenn ihm auch das Format eines Piero Medici fehlt. Della Valle hat der selbsternannten Heimatstadt des Fußballs vorerst ihre Zukunft garantiert. Die Vergangenheit wird an der Piazza Santa Croce ohnehin weiter zelebriert. Irgendwann um den Johannistag, wenn die Polizei es zulässt.

© SZ vom 18.05.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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