Australien: Perth:Hai nun!

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In Australien häufen sich Attacken Weißer Haie - aber die Menschen sehen das Phänomen gelassener als noch vor Jahren

Urs Wälterlin

(SZ vom 25.04.2002) - Ein leichter Wind wirbelt den Sand auf am Strand von Cottesloe. Trotz Kühle und Dunkelheit herrscht an diesem Morgen kurz nach sechs Uhr schon reger Betrieb. Der Cott in Perth ist der bekannteste Strand an der westaustralischen Küste. Junge Jogger in T-Shirts und Turnhosen, alte Männer, die ihre Dackel spazieren führen. Über der Strandpromenade, auf dem Balkon des Restaurants Blue Duck, nippen Frühaufsteher am Cappuccino. Aus dem Lagerraum des North Cottesloe Surf Club holen barfüßige Männer ihre Ruderboote. Das Licht der Neonröhren fällt auf den Parkplatz, den Sandstrand, bis aufs Meer. Am Horizont spiegelt sich der Vollmond auf der glatten Oberfläche des Indischen Ozeans. Das Wasser ist schwarzblau, wie edle Tinte, geheimnisvoll, undurchdringlich. "Fast wie damals", sagt Dirk Avery. Damals, am 6. November 2000, als sich sein Leben und das seiner Freunde im Pod für immer veränderte.

Die betörende Aussicht eines Hais. (Foto: N/A)

Der Pod - das Rudel - ist eine Gruppe von Strand-Enthusiasten, von engen Freunden, die sich seit vielen Jahren jeden Morgen um sechs Uhr am Cott treffen. "Es ist mehr als ein Ritual, es ist ein Lebensstil", meint Diane McCusker. Wie die anderen Mitglieder der Gruppe lebt die Galeriebesitzerin nahe am Strand, in einer der teuersten Wohngegenden Australiens. Alle Mitglieder des Pod sind erfolgreiche, zum Teil prominente Geschäftsleute. Der Unternehmer Jerry Ventouras etwa, der Anwalt Brian Sierakowski. Auch Dirk Avery ist Anwalt.

An jenem Morgen schließt er sich mit seinem Freund Ken Crew zusammen, einem Geschäftsmann. Sie wollen die übliche Strecke von 1000 Metern schwimmen: etwa 30 Meter vom Strand entfernt, den Cott entlang nach Süden und wieder zurück. Crew zeigt aufs Meer und fragt: "Hast du auch gerade etwas gesehen da hinten?" Doch Avery drängt: "Das war sicher nur eine Robbe. Lass uns endlich gehen." Dann waten die beiden ins Wasser.

20 Minuten später, auf dem Weg zurück, zeigt sich wieder einmal, wer der stärkste Schwimmer ist im Pod. Ken Crew überholt seinen Kumpel, schwimmt in kraftvollen Zügen fünf Meter vor Dirk Avery.

Die beiden sind nur 20 Meter vom Strand entfernt und in Sichtweite des Blue Duck. Dann geht alles sehr rasch. "Das Wasser explodierte", so Jerry Ventouras später. Ein Weißer Hai, fast fünf Meter lang, greift Ken Crew an und schleudert ihn wie einen feuchten Lappen meterhoch in die Luft. Augenblicke später liegt der Mann im Wasser. Ein Bein fehlt, das andere ist halb amputiert. Das Meer verfärbt sich rot vom Blut. Bewegungslos, mit weit aufgerissenen Augen, treibt Crew auf der Wasseroberfläche.

"Hai, Hai", tönt es am Strand. Die Gäste auf dem Balkon des Blue Duck gestikulieren. Eine Frau hat einen hysterischen Anfall. Alarmiert steht Dirk Avery auf im hüfttiefen Wasser. Kurzsichtig und vom Schwimmen außer Atem, hat er kaum begriffen, was geschehen ist, als er die Rückenflosse auf sich zueilen sieht. Fünf Meter vor ihm taucht der Hai unter. Avery spürt, wie das Tier nach seinem linken Fuß schnappt.

Es will sein Opfer umwerfen, um es mit den wuchtigen Kiefern besser greifen zu können. Der Hai, lang und schwer wie ein Kleinlaster, schnappt in wilder Wut in den Sand.

In diesem Moment übernehmen Averys Instinkte die Kontrolle. Mit den Fäusten schlägt er dem Fisch auf den Kopf, mit dem freien Fuß tritt er ihm gegen die Schnauze. Zähne, scharf wie Rasiermesser, schneiden ihm tief ins Fleisch. Mit aller Wucht stößt der Hai den Mann in Richtung Strand. Erst als Fisch und Mensch halb an Land liegen, gibt der Hai auf. Er windet sich zurück ins Meer und schwimmt davon. Avery bleibt liegen, blutend und im Schock. Zehn Meter neben ihm stirbt sein Freund Ken Crew, 49 Jahre alt und Vater von drei Kindern.

Kein Hai-Angriff in den letzten Jahren hat die Gemüter in Australien so bewegt wie die Attacke auf Ken Crew und Dirk Avery. Der herrliche Badestrand, die Brutalität des Angriffs vor den Augen Dutzender Zeugen, Averys Kampf und der Mut einiger Passanten, die Ken Crew aus dem Wasser holten, obwohl dort noch immer der Hai tobte - das alles peitschte die Emotionen auf.

Dabei zeigte sich aber Erstaunliches: nur vereinzelt ertönten Rufe, das "Monster der Tiefe" zu töten - obwohl in jenem Jahr 2000 in Australien vier Menschen Opfer Weißer Haie wurden: zwei Surfer, ein Fischer - und Ken Crew.

Rein statistisch bestünde also Grund zu Großalarm, denn im Durchschnitt wird pro Jahr in australischen Gewässern nur ein Mensch Opfer eines Hai-Angriffs. So haben erst vor wenigen Tagen australische Sportfischer im Magen eines Tigerhais Leichenteile eines 52-jährigen Anglers entdeckt.

"So viel Verständnis hätte es vor zehn Jahren noch nicht gegeben", meint John West, Fischexperte im Taronga-Zoo in Sydney.

West führt den australischen Teil des internationalen Hai-Angriff-Registers, einer Datensammlung über Haiattacken rund um den Globus. Er glaubt, dass sich das Bild des Hais in der Öffentlichkeit in den vergangenen Jahren deutlich zum Positiven gewendet hat. Für keinen Raubfisch gelte dies so sehr wie für den "Carcharodon carcharias", den Weißen Hai.

Albtraum jedes Wassersportlers

Der bis zu sieben Meter lange und zwei Tonnen schwere Fisch verkörpert den Albtraum jedes Wassersportlers. Kaum ein anderes Tier auf dem Globus hat einen derart schlechten Ruf wie der geheimnisvolle Raubfisch.

Auch in australischen Gewässern wurden Weiße Haie Jahrzehnte lang als "blutgierige Bestien" verfolgt und zu Tausenden getötet. "Dabei weiß man kaum etwas über den Lebenszyklus der Tiere", sagt West.

Im Gegensatz zu anderen Haiarten kann man Weiße Haie nicht in Zoos halten. Im Meer sind sie schwierig zu studieren, wenn man sie nicht mit Futter anlocken und damit ihr natürliches Verhalten verändern will. So ist über Fortpflanzung, Lebensdauer, Futtersuche und territoriales Verhalten nur wenig bekannt. Gesichert aber ist, dass Weiße Haie wie alle Raubfische im Ökosystem der Meere eine wichtige Rolle als "Gesundheitspolizisten" spielen. Sie jagen kranke Fische, Robben und andere Tiere. Diese entscheidende Funktion an der Spitze der Nahrungskette erkannten in den vergangenen Jahren auch die Politiker. Nach Südafrika und anderen Ländern stellte 1997 auch Australien den Weißen Hai unter Schutz.

Trotzdem steht es schlecht um die Zukunft des Urtiers. Verschiedene Untersuchungen lassen vermuten, dass der Bestand an Weißen Haien weiter zurück geht. Einzelne Statistiken sprechen von weltweit nur noch 10000 Tieren; genaue Zahlen aber gibt es nicht.

Für John Stevens, Experte für Weiße Haie am staatlichen Forschungsinstitut Csiro in Tasmanien, ist die Überfischung der Weltmeere und damit Nahrungsmangel der Haie ein Grund für den rückläufigen Trend. Obendrein gehen Fischern weltweit pro Jahr mindestens 100 Millionen Haie ins Netz. Viele Raubfische sterben einen qualvollen Tod, nachdem ihnen bei lebendigem Leib die Flossen abgeschnitten wurden. Haifischflossensuppe ist eine teure Delikatesse in asiatischen Küchen.

"Wenn es mich nicht gäbe, würden die Leute Weiße Haie als Haustiere halten" , meint Vic Hislop, ehemaliger Haijäger im australischen Bundesstaat Queensland. Hislop ist der bekannteste und vehementeste Gegner des Schutzprogramms. Er warnt regelmäßig vor einem "Blutbad an den Stränden." Hislop fordert den Abschuss von "Menschenfressern" und ruft Angehörige von Opfern auf, den Staat wegen "Vernachlässigung der Aufsichtspflicht" zu verklagen. Für Hislop ist klar: die Schutzbemühungen der letzten Jahre haben dazu geführt, dass Haie eine "Lust auf Menschenfleisch" entwickelten und näher an die Strände kommen.

182 Tote in 200 Jahren

"Kompletter Unsinn", meint John West. Die Gefahr, als Wassersportler von einem Hai getötet zu werden, ist nach wie vor verschwindend klein. Weltweit passieren im Jahr zwischen 30 und 100 Angriffe, von denen rund 20 Prozent tödlich enden.

In australischen Gewässern, in denen alle potenziell gefährlichen Haiarten leben, starben in den letzten 200 Jahren 182 Menschen an den Folgen einer Haiattacke. Die Chance, einem Bienenstich oder einem Blitzschlag zum Opfer zu fallen, ist um ein Vielfaches größer.

Eine weitere Theorie für die jüngst erhöhte Zahl von Angriffen ist, dass die Weltmeere als Resultat des Treibhauseffekts wärmer geworden sind. Das habe bei Haien zu einer Verhaltensänderung geführt. Auch diese Idee wird von den Experten verworfen: "Es ist einfach, solche Theorien aufzustellen. Es ist wesentlich schwieriger, sie zu beweisen", so Haiforscher Stevens.

"Das Meer war in seinem Blut."

Blutlust, Treibhauseffekt, Jagdinstinkt - Theorien, nichts als Theorien. Dirk Avery hält nicht viel davon. Für ihn ist klar: "Wenn wir ins Wasser steigen, sind wir im Territorium der Haie. So simpel ist das", meint er und blinzelt im Licht der aufgehenden Sonne. Der 52-Jährige hat den Angriff "eigentlich gut überstanden." Die Wunden an seinen Füßen sind verheilt. Psychologische Beratung half ihm, mit dem Schuldgefühl zurechtzukommen, der Überlebende zu sein. Seit ein paar Monaten schwimmt Avery wieder am Cott, allerdings immer noch mit "einem Gefühl der Unsicherheit im Nacken." Die meisten seiner Freunde waren schon wenige Tage nach Ken Crews Tod wieder im Wasser. "Ken hätte es nicht anders gewollt", meint Diane McCusker. "Das Meer war in seinem Blut."

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