Die Weißen Berge im Stockholmer Stadtviertel Södermalm sind eigentlich eher malerische Hügel. Früher wohnten dort arme Tagelöhner. Heute ist das ehemalige Arbeiterquartier Tummelplatz für Künstler und Studenten. Zugleich aber ist es Lagerstätte der umstrittensten Dokumentensammlung der Welt. Denn tief im Granitgestein unter der Idylle stehen in einem alten Atombunker die Rechner der Enthüllungsplattform Wikileaks.
Es ist ein Bild, das zu einem perfekten Symbol hätte werden können - für nordische Offenheit und Meinungsfreiheit. Wikileaks und Schweden, das sah zunächst nach einem perfekten Paar aus. Doch entwickelte sich die Beziehung zu einer verhängnisvollen Affäre. Denn seit eine Göteborger Staatsanwältin Julian Assange wegen Vergewaltigungsverdacht jagt, erscheint das Land vielen nicht mehr als so idyllisch. Es ist eine seltsame Situation: Während die Enthüllungsplattform weiter Daten in Stockholm lagert, setzt ihr Chef in London alles daran, seine Auslieferung nach Schweden zu verhindern.
Noch im August war der 39 Jahre alte Australier persönlich in die schwedische Hauptstadt gereist, um seine Verbindungen zu dem skandinavischen Land zu festigen. Wikileaks hatte gerade die Dokumente zum Afghanistan-Krieg veröffentlicht und suchte einen sicheren Standort. Schweden, mit seinen liberalen Pressegesetzen und seiner lebendigen Internetszene, wirkte wie ein verlockender Freihafen. Jetzt dagegen erzählt Assange in seinen Interviews, das Land tue nur so liberal, in Wirklichkeit sei es ganz anders. Er und seine Anwälte deuteten mehrmals an, die Vergewaltigungsklage sei Teil einer möglicherweise von den USA gesteuerten Kampagne gegen die Enthüllungsplattform. Von einer "Vendetta" der Schweden war gar die Rede. Assange bekam Schützenhilfe von internationalen Größen wie dem US-Filmemacher Michael Moore oder der Autorin Naomi Klein. Moore etwa schrieb einen offenen Brief an die schwedische Regierung, in dem er forderte, man solle Assange in Ruhe lassen und sich lieber um "richtige" Vergewaltigungen kümmern.
Die Schweden verfolgen mit wachsender Irritation, wie sich eine weltweite Welle der Empörung gegen ihr Land richtet, das sonst gerade von Leuten wie Moore oder Klein immer als Vorbild gepriesen wird. Die Kritik an der Staatsanwaltschaft halten die meisten für völlig überzogen, eine ernsthafte Debatte über die Konspirationsvorwürfe gibt es nicht.
Im Internetdienst Twitter formierte sich dagegen unter dem Schlagwort prataomdet ("sprichdarüber") eine Art Solidaritätsbewegung mit den beiden Frauen, auf deren Aussage sich der Verdacht gegen Assange gründet. Inzwischen haben Hunderte Schwedinnen dort über ihre eigenen Erfahrungen mit sexueller Gewalt getwittert und die Grenzen zwischen freiwilligem Sex und Vergewaltigung debattiert. Die beiden Frauen hätten Mut bewiesen, als sie zur Polizei gingen, sagte kürzlich die Journalistin Johanna Koljonen, die prataomdet gestartet hat. Es sei bedrückend, dass sie nun von manchen als CIA-Agentinnen diffamiert würden.
Über den Inhalt der Vorwürfe gegen ihn gibt es kaum noch Zweifel. Mehrere Zeitungen, zuletzt der britische Guardian und die New York Times, zitierten ausführlich aus den Verhörprotokollen mit den beiden Frauen. Dass Assange am Freitag, dem 13. August, in Stockholm mit der Klägerin A. schlief und dabei das Kondom riss, war ebenso nachzulesen, wie die Geschichte seiner Liebesnacht mit der zweiten Klägerin W. Mit ihr soll Assange gegen deren ausdrücklichen Willen ungeschützten Verkehr begonnen haben, während sie schlief. Darauf gründet sich der Vergewaltigungsverdacht. Und die meisten Schweden finden es durchaus angebracht, dass die Staatsanwaltschaft solchen Vorwürfen nachgeht.
Trotz aller Kritik - Wikileaks hat nach wie vor viele Freunde im Norden. "Es scheint einigen Leuten schwerzufallen, zwei Gedanken gleichzeitig im Kopf zu haben: Dass Wikileaks eine gute Einrichtung ist - aber ihr Gründer trotzdem einen Fehler gemacht haben kann", sagte Karin Pettersson, politische Chefredakteurin der Zeitung Aftonbladet. Und Thomas Matsson, Chefredakteur des Konkurrenzblattes Expressen, machte Witze über die Vorwürfe gegen Schwedens Justiz. Einem amerikanischen Reporter habe er neulich erklärt, "dass wir schon Gerichte hatten, bevor Australien überhaupt entdeckt wurde."