Der Westen und die Wahlen in der arabischen Welt:Zaungast beim Triumph der Islamisten

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Nach den Umstürzen in der arabischen Welt drängen Islamisten in die Parlamente - ein beispielloser Erfolg. Der Westen misstraut der neuen Kraft und hat dennoch keinen Einfluss. Denn in Nordafrika hat niemand vergessen, dass westliche Regierungen zwar zu Toleranz und Rechtsstaatlichkeit aufrufen, aber als Komplizen Mubaraks und Ben Alis kein Wort für die eingekerkerten Islamisten fanden.

Sonja Zekri

Nach zehn Monaten arabischer Revolte ist die alte Welt untergegangen, aber die neue weckt wenig Vertrauen, jedenfalls aus westlicher Perspektive. In Tunesien, dem Mutterland der arabischen Volksaufstände, haben in einer fast makellos fairen Wahl - der ersten in diesem Land und eine der wenigen überhaupt in der Region - die Islamisten einen Sieg errungen, der nur deshalb nicht größer ausfällt, weil das neue Wahlsystem auch kleinen Parteien Chancen einräumt.

Anhänger der populären islamistischen Ennahda-Bewegung feiern in der tunesischen Hauptstadt. (Foto: AP)

Im benachbarten Libyen feiert die Übergangsregierung die Befreiung von Gaddafi mit dem Versprechen, die Scharia zur Grundlage künftiger Gesetze zu erheben, ein islamisches Bankensystem ohne Zinsen einzuführen und Polygamie zu erlauben. Ägypten, das größte Land der Region, bereitet sich auf die ersten Parlamentswahlen nach dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak vor, und niemand zweifelt daran, dass die Muslimbrüder, der Inkubator fast aller islamistischen Bewegungen, bestens abschneiden.

83 Jahre nach der Gründung der Muslimbrüder, nach Verfolgung und Verlusten, Teilungen und Metamorphosen greift der politische Islam nicht nur nach der Mehrheit in den Parlamenten. Auf den Trümmern des untergegangenen Systems werden die Islamisten Verfassungen mitschreiben, Recht schaffen, Außenpolitik mitgestalten, kurz: Sie stehen an der Wiege neuer Gesellschaftsordnungen. Ein beispielloser Triumph.

Statt eines hypnotisierten Blicks auf den scheinbar unaufhaltsamen Siegeszug des Islam lohnt sich die Rückschau auf weltzugewandte Phasen. In den Fünfzigern begeisterte der Gedanke arabischer Einigkeit die Massen. In den Achtzigern tranken auch viele Araber gern Alkohol; westliche Mode, natürlich kopftuchfrei, war kein Privileg der gehobenen Schichten, und die Frauen drängten in die Universitäten.

Die Radikalsten werteten die Freizügigkeit der Moderne damals als Höhepunkt arabischen Fortschritts. Seitdem ist die Welt frommer geworden - nicht nur der Nahe Osten, sondern auch der Westen, nicht nur Muslime, auch Christen und Juden. Wer sagt, dass die Religion ihren Einfluss eines Tages nicht wieder verliert?

Der Westen ist Zaungast

Wie aber soll man bis dahin umgehen mit den mächtigen Religiösen? Idealerweise differenziert. Die Stärke der tunesischen Islamisten von der Nahda-Partei ist zum guten Teil die Folge taktischer Fehler ihrer Gegner. Vor allem die säkularen Sozialdemokraten der PDP haben den moderaten Rachid Ghanouchi als Schreckgespenst, als neuen Chomeini diffamiert, aber damit erst das Mitgefühl eines Publikums geweckt, das die Jagd auf die Islamisten in den Jahren der Diktatur nicht vergessen hat.

Ähnlich pragmatische Hintergründe dürften die libyschen Scharia-Versprechen haben: Der bedrängte Übergangsrat manövriert zwischen den Machtansprüchen islamistischer Milizen und den Reformidealen seiner westlichen Waffenbrüder. Zudem ist der Islam in fast allen arabischen Ländern Staatsreligion - bis auf Syrien. Dort garantiert die Verfassung den quasi-religiösen Status der säkularen Baath-Partei und dient derzeit als Vorwand für den Krieg gegen das eigene Volk.

Bei alldem ist der Westen kaum mehr als ein Zaungast. Selbst viele säkulare Muslime begreifen die Warnungen vor den Islamisten bestenfalls als Bevormundung, schlimmstenfalls als Angriff auf ihre Religion. Zudem haben die Volksaufstände ein geschärftes Bewusstsein von Identität und Nation hervorgebracht.

Ägypten verzichtet mit Verweis auf Patriotismus und Eigenständigkeit sogar auf internationale Wahlbeobachter. Und niemand hat vergessen, dass westliche Regierungen zwar neuerdings zu Toleranz und Rechtsstaatlichkeit aufrufen, aber als Komplizen Mubaraks und Ben Alis kein Wort für die eingekerkerten Islamisten fanden.

In Tunesien, dem kleinen Pionierstaat, werden die Islamisten politische Verantwortung übernehmen, den Ausgleich mit säkularen Parteien suchen müssen. Zweifellos wird es Verlierer geben, unter religiösen Minderheiten, Frauen, Säkularen, Kulturschaffenden, auch wenn gerade die tunesischen Islamisten ihre Verpflichtung zu Fortschritt, Demokratie und Mäßigung beteuern.

Islamistische Reformer gegen Ultrakonservative

Natürlich bietet der Islam so wenig Lösungen für weltliche Probleme, wie Religion generell kein Ersatz für Bildung, Rechtsstaat und Arbeitsmarktpolitik ist. Aber hätte der säkulare Staat nicht so katastrophal versagt, würden die Fürsorgeangebote der Muslimbrüder in Ägypten und die paradiesischen Jobversprechen von Ghanouchis Nahda-Partei in Tunesien bei vielen einfach verpuffen. Nun müssen sie sich beweisen. Vieles deutet darauf hin, dass das Ringen um die postrevolutionäre Zukunft in Ägypten oder Tunesien weniger zwischen Liberalen und Islamisten ausgetragen wird als zwischen islamistischen Reformern und Ultrakonservativen.

So undurchsichtig die Islamisten nach wie vor sind: Eine Annullierung der tunesischen Wahl wie nach dem Sieg der algerischen Islamisten 1991 oder ein westlicher Boykott wie nach dem Sieg der Hamas in Gaza wären verheerend. Selbst wenn die Islamisten, wie befürchtet, die Demokratie abschaffen wollten - die Araber haben inzwischen eine gewisse Routine darin, Herrscher zu stürzen.

© SZ vom 26.10.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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