Vorwürfe gegen Ägyptens Sicherheitskräfte:Notoperation ohne Betäubung

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Neue Enthüllungen belasten Ägyptens Militär schwer: Während und nach der Mubarak-Ära sollen Soldaten noch selbst im Krankenhaus äußerst brutal gegen Demonstranten vorgegangen sein. Menschenrechtler ziehen Vergleiche zu Kriegsverbrechen.

Von Johannes Kuhn

Vier Stunden dauerte das Versöhnungstreffen und am Ende gab es ein paar neue Abzeichen: Als die Mitglieder des Obersten Militärrats am Donnerstag den Präsidentenpalast in Kairo verließen, konnten sie drei führenden Militärkommandeuren die Nachricht ihrer Beförderung überbringen.

Die Friedensgeste des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi soll die Gerüchte über das zerrüttete Verhältnis zwischen Regierung und Militär zerstreuen, doch den Zeitpunkt darf man getrost zynisch nennen: In den vergangenen Tagen wurden neue grausame Details aus einem Ermittlungsbericht über das Verhalten der Armee bei den Anti-Regierungs-Protesten bekannt.

Die Untersuchung hatte Mursi selbst in Auftrag gegeben, doch die Regierung hält die Ergebnisse bislang zurück - das vielleicht größte Geschenk an das Militär, dem im ägyptischen Politspiel weiterhin großer Einfluss zugerechnet wird. Seit einiger Zeit allerdings finden Teile des Berichts immer wieder ihren Weg in den britischen Guardian. In den vergangenen Tagen kam ans Licht:

  • Ägyptens Streitkräfte beteiligten sich der Untersuchung zufolge während des Aufstands gegen den damaligen Machthaber Hosni Mubarak Anfang 2011 an Entführungen, Morden und Folter, obwohl sie sich offiziell Neutralität auferlegt hatten. Mehr als 1000 Ägypter verschwanden während der 18-tägigen Revolutionsphase. Der Bericht bezieht sich dabei auf Aussagen von Augenzeugen und Hinterbliebenen. Die Armee hatte sich am Ende auf die Seite der Demonstranten geschlagen.
  • Auch in der Zeit bis Mitte 2012, in denen das Militär vorläufig die Macht übernahm, beteiligte sich die Armee an Menschenrechtsverletzungen. Ein Kapitel, so berichtet der Guardian, behandelt bislang unbekannte Vorfälle während der Proteste gegen die damalige Militärregierung in Kairo. Verletzte Zivilisten seien in ein Militärkrankenhaus gebracht worden, wo Armeevertreter nicht nur auf sie einprügelten, sondern auch Ärzte anwiesen, sie ohne Betäubung und Sterilisierung der medizinischen Instrumente zu operieren.

Eine ägyptische Vertreterin von Human Rights Watch erklärte: "Wäre so etwas im Krieg passiert, gegen Kriegsgefangene, würden wir von Kriegsverbrechen sprechen." Die Enthüllungen dürften den Druck verstärken, die Vorfälle aufzuklären und die Täter vor Gericht zu bringen. Einzig: Nur das Militär selbst hat das Recht, gegen Soldaten zu ermitteln. Dies ist in der neuen Verfassung festgelegt, die maßgeblich von Mursi und den Muslimbrüdern mitgestaltet wurde.

Der Konflikt schwelt weiter

Das Militär spielt im Ägypten der Gegenwart eine zwiespältige Rolle: Mursi hat zwar einige Generäle bereits entmachten können, doch hütet er sich, zu sehr gegen den Militärrat zu regieren. Viele Ägypter haben den Generälen die verpfuschte Übergangszeit nicht vergessen, andere fordern angesichts einer möglichen Islamisierung des Landes durch den Präsidenten und die Muslimbrüder einen Staatstreich. Islamisten treten inzwischen angeblich zuhauf in die Armee ein - konservative amerikanische Quellen sprechen bereits von einer "Islamisierung" des Militärs und fürchten nicht nur um die guten Beziehungen der ägyptischen Streitkräfte zum US-Militär.

Nach Anti-Regierungs-Protesten Anfang Januar warnte der Armeechef noch vor einem Zusammenbruch des Landes, inzwischen hält er sich offiziell wieder zurück, auch wenn der Konflikt mit der Regierung weiter schwelt.

Auch die Polizei steht in der Kritik

Doch das Militär ist nicht das einzige umstrittene Sicherheitsorgan, die Polizei ist noch stärker in der Kritik. Ihr wird nicht nur Folter und Mord während der Mubarak-Zeit und des Arabischen Frühlings vorgeworfen, auch gegenwärtig genießt sie einen schlechten Ruf: Berichte von Übergriffen und Entführungen von Aktivisten machen regelmäßig die Runde, auch Tötungen von Demonstranten per Kopfschuss werden gemeldet.

Viele Ägypter sehen den alten Mubarak-Geist am Werk, doch Forderungen nach Reformen und einer strengeren Justiz, die Prozesse gegen Sicherheitskräfte häufig in Freisprüchen enden lässt, verhallen bislang ungehört. Die Polizei sieht sich ihrerseits als Sündenbock und berichtet von einer extremen Gewaltzunahme gegen die Mitglieder.

Seit längerem schließen sich lokale Bürgerwehren zusammen, um Sicherheitsprobleme selbst zu lösen; eine Idee, die auch bei islamistischen Hardlinern großen Anklang findet. Die neuen Enthüllungen dürften das Vertrauen in Militär und Polizei nicht verstärken.

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