Vor Parlamentswahlen in Griechenland:Tage der Abrechnung

Lesezeit: 4 min

Stellen Sie sich vor, es ist Wahlkampf und keiner traut sich, eine Rede zu halten: In Griechenland stehen die wichtigsten Wahlen seit Jahrzehnten an, doch aus Angst vor dem Zorn des Volkes will kaum ein Politiker öffentlich auftreten. Die Bürger hingegen wollen sich beteiligen, die Zahl der Wahlverweigerer ist drastisch gesunken. Und das, obwohl sie eigentlich keine wirkliche Wahl haben.

Kai Strittmatter, Athen

Aus Griechenland kommen in diesen Tagen auch gute Nachrichten. Verblüffend gute Nachrichten. Verblüffend viele gute Nachrichten. Beispiele? Die griechischen Steuerbehörden beschlossen soeben, die Konten mutmaßlicher Steuerhinterzieher vorsorglich zu beschlagnahmen, auch wenn deren Prozess noch läuft. Ein ehemaliger Verteidigungsminister sitzt in Untersuchungshaft, weil er unter dem Verdacht der Korruption steht. Der frühere Direktor der Aspis-Bank wird wegen Betrugs für acht Jahre ins Gefängnis geschickt - er ist das erste prominente Mitglied der Gesellschaft überhaupt, das als korrupt verurteilt wurde. Am Rande Athens wird ein Auffanglager für illegale Immigranten eröffnet.

Das alles fordern die empörten Griechen schon seit Jahren. Das alles brachten ihre Politiker nie zustande. Obwohl ihr Land in Korruption und Klientelwirtschaft erstickte. Obwohl das historische Zentrum von Athen an den Flüchtlingsströmen zugrunde geht. Plötzlich sind solche Dinge möglich? Geschehen alle innerhalb von wenigen Tagen? Man mag dem jungen Athener seinen Zynismus verdenken, der da sagt: "Spätestens jetzt merken wir: Die Wahlen sind da."

Griechenland wählt. Am Sonntag. Es sind Schicksalswahlen, die wichtigsten seit dem Sturz des Obristenregimes 1974. Die Wahlen finden statt in der schwersten Rezession, die das Land seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durchlebt hat. Vor allem aber: Es sind die ersten Wahlen seit Ausbruch der Finanzkrise, die Griechenland an den Rand des Ruins gebracht hat. Das letzte Mal, als die Griechen wählen durften, da wählten sie eine Partei und einen Premier, die ihnen sagten: "Geld ist da!"

Irini Papanikola zum Beispiel, 32 Jahre alt, Versicherungsmaklerin. Sie hat heute 40 Prozent weniger Geld in der Tasche als noch vor einem Jahr, gleichzeitig zahlt sie mehr als je zuvor für Benzin und Lebensmittel. Sie sitzt im Haus der Mutter in Piräus, vor der Tür ein Schrebergarten, über den sie nun froh ist: Zwiebeln, Tomaten, Bohnen, Salat, Orangen und Quitten braucht sie nicht mehr im Supermarkt zu holen.

Die junge Frau ist eine typische Stimme ihrer Generation. Wenn sie über ihre durchkreuzte Lebensplanung spricht: "Familie? Das habe ich abgehakt. Wir können uns keine Familie mehr leisten." Oder über die Deutschen: "Wenn du um Hilfe bittest, dann sollte doch derjenige, der die Hilfe gewährt, hernach nicht auf dich drauftreten." Wenn sie über die Regierenden in Athen urteilt: "Wir hätten nicht gedacht, dass wir von den eigenen Politikern so betrogen werden könnten."

Kaum jemand traut sich, eine öffentliche Rede zu halten

Die Wut ist groß, und so ist es ein merkwürdiger Wahlkampf, einer, in dem die Politiker fast nur vom Fernsehschirm herab predigen - weil sie sich nicht unters Volk wagen. Parlamentarier wurden im vergangenen Jahr auf der Straße mit Tomaten und faulen Orangen beworfen, Minister und der Vizepremier wurden Ziel von Joghurt-Geschossen. Politikern in der Provinz geht es da nicht anders.

Auf dem zentralen Platz in der Kleinstadt Katerini steht Elias Tsolakidis, der hier die landesweit nachgeahmte "Kartoffelbewegung" ins Leben gerufen hat, bei der die Zwischenhändler zwischen Bauern und Konsumenten ausgeschaltet werden. Er sagt: "Jetzt treten wieder dieselben alten Politiker an und wollen das Land retten? Da kann ich nur lachen. Diese Generation muss abtreten." Wird sie aber nicht, viele sind auch deshalb frustriert: Es kandidieren bei der Wahl dieselben alten Gesichter.

Stimmt, sagt Tsolakidis: "Aber sie fangen schon an zu verschwinden. Sie trauen sich nicht mehr auf die Straße. Stellen Sie sich vor: Es ist Wahlkampf - und kein Politiker unserer Stadt ist in der Lage, auf diesem Platz hier eine Rede zu halten." Zum Jahrestag der griechischen Revolution am 25. März gab es wie jedes Jahr eine große Parade auch in Katerini, das von der konservativen Nea Dimokratia regiert wird. Das Ehrenpodest aber blieb leer: "Kein einziger unserer vier Parlamentarier hat es gewagt, zu erscheinen."

Es ist nämlich auch so: Es kommen noch immer schlechte Nachrichten aus Griechenland. Verblüffend schlechte Nachrichten. Das Elend hat - nach zwei Rettungspaketen, nach unzähligen Sparrunden, nach Dutzenden Steuererhöhungen - kein Ende. Im Dezember gab es erstmals mehr Arbeitslose unter 24 Jahren als junge Leute mit Arbeit. Insgesamt stieg die Arbeitslosigkeit auf mittlerweile knapp 22 Prozent.

Dass die Wirtschaft in diesem Jahr erneut um fünf Prozent schrumpfen soll, wie die Zentralbank vorhersagt, halten viele für eine zu optimistische Schätzung. Viele Griechen haben zwar offiziell noch eine Arbeit, werden aber schon seit Monaten nicht mehr bezahlt, wie jener Athener Krankengymnast, der anonym bleiben möchte und der seit mehr als einem halben Jahr kein Gehalt mehr von der Athener Stadtteil-Regierung gesehen hat: "Meine Steuern und Abgaben muss ich aber weiter bezahlen."

Das eigentlich Erstaunliche angesichts all der Frustration ist die Zahl der Wahlverweigerer: Sie schrumpft. Weniger als 20 Prozent gaben bei den letzten Umfragen an, gar nicht oder ungültig zu wählen. Noch vor einem Jahr waren es doppelt so viele. Die Leute wollen also wählen - aber die alten Loyalitäten zu den Volksparteien Pasok und ND zählen nicht mehr viel. Die Menschen schenken ihre Stimmen diesmal vielen kleinen Parteien.

Von den panikartigen Beschwörungen der Pasok- und ND-Führer, es drohe der Austritt aus dem Euro, der Zerfall des Parlaments, lassen sie sich nicht beeindrucken. "Die hohlen Worte der Großen kann ich nicht mehr hören, sie haben versagt. Ich hoffe, dass die Kleinen stark werden", sagt der Koch Dionisis Hastukis. Auch Sotiris Hatzakis, der Intendant des Nationaltheaters von Thessaloniki, mag an der bevorstehenden Vermehrung der Parlamentsfraktionen nichts Schlechtes finden: "Das ist eine Übung in Demokratie. Und dann sollen sie bitteschön einen Weg finden, miteinander zu kooperieren."

Tatsache ist: Alle Griechen wissen, dass ihr Land auch nach dem kommenden Sonntag nicht wirklich eine Wahl hat. Es wird weiter gespart und gekürzt werden. Und die große Frage bleibt die, die Irini Papanikola inmitten ihres Schrebergärtchens stellt, nachdem sie erklärt hat, es mache ihr nichts aus, ihren Teil zur Rettung Griechenlands zu geben: "Aber keiner von uns weiß doch: Wird es denn die Rettung überhaupt geben?"

© SZ vom 03.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: