USA:Predigt des Präsidenten

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Und dann begann der US-Präsident "Amazing Grace" zu singen. Barack Obama bei der bewegenden Trauerfeier in Charleston. (Foto: Brian Snyder/Reuters)

Barack Obama hält bei der Trauerfeier für die Opfer des Massakers von Charleston eine denkwürdige Rede.

Gegen Ende seiner Rede stimmt Barack Obama "Amazing Grace" an, das Volkslied über die "erstaunliche Gnade" Gottes in schweren Zeiten, das schon den Sklaven in den USA Kraft und Hoffnung gab. Erst zögerlich, dann begleitet von Tausenden Stimmen in der Halle in Charleston singt der erste schwarze US-Präsident die Zeilen, die übersetzt so lauten: "Ich war einst verloren, aber nun bin ich gefunden, war blind, aber nun sehe ich." Es ist gut eine Woche nach dem Massaker an neun Afroamerikanern in einer Kirche der Höhepunkt seiner Traueransprache, die mehr wie eine Predigt wirkt. Wie ein Pastor, der sein Land wachrütteln will, zählt Obama die Lehren der grausamen Bluttat auf, die nun gezogen werden müssen. Dabei beruft er sich immer wieder auf Gott. "Er hat uns erlaubt zu sehen, wo wir blind waren", ruft er unter dem Jubel der Gemeinde. Zwischendurch wischt er sich eine Träne aus den Augen.

Viele sprechen von einer seiner besten Reden. Sie dürfte noch lange nachwirken

Dann zählt Obama auf, was sein Land nach seiner Meinung noch immer nicht richtig sieht. "Zu lange sind wir blind gewesen gegenüber dem einzigartigen Chaos, das Waffengewalt dieser Nation zufügt", ruft er. "Zu lang waren wir blind gegenüber dem Schmerz, den die Konföderierten-Flagge in zu vielen unserer Bürger auslöste", meint er wegen der Kontroverse um das Symbol, das in den Südstaaten beliebt ist. Die Fahne habe "immer für mehr gestanden als für Stolz auf die Vorfahren", sagt Obama. "Für viele, Schwarze und Weiße, war die Flagge eine Erinnerung an systematische Unterdrückung und rassistische Unterjochung." Und: "Zu lang waren wir blind gegenüber der Art, wie vergangene Ungerechtigkeiten die Gegenwart weiterhin prägen", sagt er über die Diskriminierung von Schwarzen. In mehreren südlichen Bundesstaaten gibt es seit der Bluttat von Charleston Bestrebungen, die Flagge von öffentlichen Gebäuden zu verbannen.

Viele, die seit Jahren über Obama berichten, sprechen von einer seiner besten Reden - über die Lage der Nation, die noch lange nachwirken wird. Doch Obama weiß selber, dass er einen schnellen Wandel der Gesellschaft nicht diktieren kann. "Niemand sollte einen Wandel der Rassenverhältnisse über Nacht erwarten", sagt er.

Gekommen ist er für die Trauerfeier für den ermordeten Pfarrer Clementa Pinckney, der unter den neun Toten war. "Was für ein Leben Clementa Pinckney gelebt hat", sagt Obama zu Applaus und "Amen"-Rufen der Gemeinde. Seine Kirche sei ein heiliger Platz gewesen. "Nicht nur für Schwarze, oder Christen, sondern für jeden Amerikaner, dem die Ausweitung der Freiheit wichtig ist. Das ist es, was diese Kirche bedeutete."

Der 21-jährige Dylann Roof hatte am 17. Juni bei einer Bibelstunde um sich geschossen. Obama entzieht dem Täter geschickt die Bühne. Dieser sei mit seinem Vorhaben gescheitert, das Land zu spalten. "Der von Hass geblendete, mutmaßliche Mörder konnte die Gnade nicht sehen, die Pfarrer Pinckney und diesen Bibelkreis umgab", erklärt der Präsident. Roof habe nicht damit gerechnet, dass die Hinterbliebenen der Opfer mit Vergebung reagieren und dass die USA die Bluttat als Anstoß zur Selbstprüfung nutzen würden.

Überhaupt zeigen die Trauernden in Charleston, dass sie dem Bösen nicht die Kontrolle über ihr Leben geben wollen. Sie singen und lachen, sie klatschen im Takt zu Gospel-Liedern und tanzen. Die Andacht für Pinckney in der 5100 Sitze fassenden Sportarena bezeichnen sie als "Fest anlässlich seiner Heimkehr". Schon Stunden vor Obamas Rede haben sich Hunderte Trauernde in der Innenstadt versammelt. Die Warteschlange zur Arena zieht sich über mehrere Straßenblocks. Viele tragen schwarze Anzüge, Kostüme und feine Abendgarderobe. Die auf dem Gehweg Wartenden glichen einem "Meer der Menschlichkeit", twittert der Abgeordnete im Landesparlament von South Carolina, Gary Clary. "So viele großartige Dinge können aus einer Tragödie entstehen", sagt eine Afroamerikanerin in der Warteschlange.

© SZ vom 27.06.2015 / dpa/afp - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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