Unruhen in Ungarn:Eine Nacht der Schocks und neuen Lügen

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Eine vertrauliche Rede des Premiers löst die schwersten Unruhen seit 1956 aus - auch wenn sich die Lage beruhigt, stehen den Ungarn weitere Erschütterungen sicher bevor.

Kathrin Lauer und Alexander Hagelüken

Es gibt viele skandalöse Sätze in der vier Monate alten Rede von Ferenc Gyurcsany, die eigentlich hatte geheim bleiben sollen. Doch ein Absatz wirkt jetzt wie doppelter Hohn. "Es wird Demonstrationen geben, es wird sie geben. Man kann vor dem Parlament demonstrieren. Früher oder später werden sie es aber satt haben und nach Hause gehen."

Szenen wie beim antikommunistischen Aufstand von 1956: Budapest in der Nacht zum 19. September. (Foto: Foto: dpa)

Das sagte Ungarns Premier, gerade frisch wiedergewählt, im Mai in vertraulicher Runde seinen Sozialisten, um sie einzustimmen auf Popularitätsverlust, Widerstand, und ja, auch auf laute Proteste, angesichts des bevorstehenden drastischen, längst fälligen Sparprogramms, das man nun durchziehen wollte. Ja, und man habe die Wähler angelogen und zwar "morgens, nachts und abends". Damit müsse nun Schluss sein, war Gyurcsanys Tenor, das Lügen könne nicht weitergehen.

Die Menschen in Budapest hatten es nicht satt. Es folgten Szenen, die Ungarns Rechte jetzt gerne mit dem antikommunistischen Aufstand von 1956 vergleichen, dessen 50.Jubiläum man in diesem Oktober mit den obligaten Festreden feiern wollten. Der Sturm der Demonstranten auf das Gebäude des ungarischen Staatsfernsehens im Regierungsviertel erinnerte äußerlich an die Tumulte von 1956 im Rundfunkgebäude, damals die wichtigste Eroberung der Revolutionäre.

In dieser, wie Gyurcsany sagte, "schwärzesten Nacht in Ungarn" attackierten auch noch ein paar Demonstranten das nahe Denkmal zu Ehren der sowjetischen Soldaten, die 1945 in Budapest der Nazi-Herrschaft ein Ende bereitet hatten. Sie rissen die Plakette mit der Aufschrift ab, zerstörten eine Reliefdarstellung und schmierten weiße und rote Farbe darauf: die Farben der rechtsradikalen Arpadfahne.

Rechtsradikale Eskalation

Hier sind die Parallelen zu 1956 längst zu Ende, denn dies war die rechts-radikale Eskalation einer anfangs friedlichen Demonstration. Zunächst hatten nur etwa 20 bis 30 Jugendliche am späten Montagabend vor dem klassizistischen Fernsehgebäude Stellung bezogen, nachdem sie schon den ganzen Abend vorher im Nieselregen mit Tausenden anderer Demonstranten vor dem nahen Parlamentspalast gestanden hatten.

Dort hatten sie ihre Arpad-Fahnen geschwenkt und "Gyurcsany, Rücktritt" gerufen. Vor dem Gebäude des Senders angekommen, wollte die Polizei das Grüppchen zurückdrängen. Es begann ein Stoßen und Drängen, Tränengas und Schreie erfüllten die Luft. Ein Demonstrant wollte eine Petition verlesen, sah aber, dass die Zuhörerschar zu klein war und lief zurück zum Kossuth-Platz, zum Parlament, um mehr Demonstranten zu holen. Es kamen etwa 200.

Kurz vor Mitternacht brannten die ersten beiden Polizeiautos. Pflastersteine flogen. Das bis dahin verschlossene Gittertor am Eingang hielt irgendwann nicht mehr stand. Die Polizisten flohen in das Gebäude hinein und kamen später mit noch mehr Tränengaspistolen zurück, außen zogen Wasserwerfer auf. Im Gebäude des Senders blieb kaum eine Fensterscheibe heil. Nach Schätzung von Augenzeugen drangen etwa 50 Randalierer in das Gebäude ein und verwüsteten einige Büros. Anderthalb Stunden nach Mitternacht wurden die Bildschirme schwarz.

Der übernächtigte Gyurcsany, eben zurückkehrt von einem lange geplanten Treffen mit Wladimir Putin, musste auf Privatsender ausweichen. Dort verkündete er, was Politiker in solchen Momenten zu sagen pflegen: "Die Straße ist keine Lösung", aber auch: "Die Polizei hat die Situation nicht unter Kontrolle."

Staunen über den Lebensstandard

Der 45-jährige Gyurcsany hat sich früh angewöhnt, seinen eigenen Weg zu gehen, gegen alle Widerstände. Er ist in der Provinz geboren, seine Mutter ernährte die Familie mit Näharbeiten. Gerne erzählt er, wie er sich die Nase an den Schaufenstern plattdrückte, als er zum ersten Mal nach Budapest kam: "Ich staunte über den Lebensstandard der Menschen dort." Da musste er hin. Schon in kommunistischen Zeiten machte er Karriere als Jugendsekretär. Nach der Wende verdiente er Millionen bei der Privatisierung, die Opposition wirft ihm deshalb Mauscheleien vor. Als vor zwei Jahren ein neuer sozialdemokratischer Premier gebraucht wurde, drängte er überraschend den Favoriten der Parteispitze ins Abseits.

Der Premier wirkt jungenhaft, repräsentiert nicht gern. Im Gespräch bleibt er kurz angebunden, wie ein Manager. In der Amtssuite im Parlament an der Donau hängen Ölporträts ungarischer Nationalgrößen, mit der dunklen Holzvertäfelung ist dies ein Ambiente, in dem er nicht wirklich zu Hause zu sein scheint. In seinen Räumen hat er ein paar Dinge platziert, die besser zu ihm passen: In der Ecke steht ein riesiger Flachbildschirm, auf dem Schreibtisch ein Laptop, auf dem er seine E-Mails selbst beantwortet. Seine Angewohnheit, ohne Bodyguards von der Wohnung zum Parlament zu joggen, kann er nun vermutlich kaum beibehalten.

Kurz vor vier Uhr morgens bewegten sich am Dienstag immer noch Tausende Menschen zwischen Parlamentsplatz und Fernsehgebäude. Irgendwo redete ein 28-Jähriger triumphierend auf die Menge ein: "Wir haben das Risiko auf uns genommen. Das ist eine Revolution." Der da sprach, war Laszlo Toroczkai, Anführer der neuesten, äußerst aktiven rechten Gruppe Ungarns, der "Jugendbewegung der 64 Burggkomitate". Sie ist eine von vielen rechten Gruppen, die seit Ende des Mandats der rechten Regierung Viktor Orbans von 1998 bis 2002 sprießen.

Ideologisches Amalgam

Die Bewegung wurde 2001 gegründet und hat ihren Sitz aus ideologischen Gründen im Dorf Ruzsa nahe dem südostungarischen Szeged. Ruzsa war das Versteck des Räubers, antihabsburgischen Freiheitskämpfers und Volkshelden Rozsa Sandor (1813-1878), über den seinerzeit in Ungarn Heldenballaden zirkulierten und in Österreich Moritatenverse. Die Gruppe sucht diesen ungarischen Robin-Hood-Mythos zu einem ideologischen Amalgam zu verschmelzen mit Sehnsüchten nach dem 1920 zusammengebrochenen Großungarn, das damals 64 Komitate umfasste.

Die Polizei muss herausfinden, ob diese Gruppe die Randale ausgelöst hat oder ob es andere Vereine waren. Jedenfalls scheinen die Randalierer zunächst volle Unterstützung von Orbans nun oppositioneller Partei Fidesz gehabt zu haben. Dessen Sprecher Peter Szijjarto hatte zwar am Nachmittag die Demonstranten aufgerufen, sich nicht zu Gewalt hinreißen zu lassen. Aber in der Nacht sprach er ihnen "Solidarität" aus. Er distanzierte sich nur insoweit, als er behauptete, auf der Straße befänden sich "nicht die Männer der Partei (Fidesz)", sondern "verzweifelte, enttäuschte Menschen".

Verzweifelte Menschen, ein feindliches, polarisiertes politisches Klima und eine jetzt offensichtlich ungeschickt agierende Polizei - die Wurzeln der Krawallnacht in Budapest'' sind verzweigt. Gyurcsanys Skandal-Rede musste durch das Eingeständnis der Lüge schockieren.

Sie enthielt aber zum größten Teil Erkenntnisse, die seit Monaten und Jahren breit diskutiert werden: Dass ein enormer Reformbedarf herrscht, den zwei Regierungen, Viktor Orbans Fidesz und die ihm folgenden Sozialliberalen versäumt haben. Dass die Heizkosten nicht weiter so subventioniert werden können, als bekomme man das Erdgas noch fast gratis, wie früher, aus der befreundeten Sowjetunion. Dass das Gesundheitswesen als kostenträchtiges Unterfangen begriffen werden muss, das endlich auf einem korrekten Versicherungswesen ruhen sollte.

Bislang sind die Patienten genötigt, die unterbezahlten Ärzte zu bestechen, wenn sie optimal behandelt werden wollen. Die Versäumnisse wirken jetzt umso gravierender, als nun der Nachholprozess nur schmerzhaft sein kann. Nun müssen die Heizkosten eben mit einem Schlag um 30Prozent angehoben werden. Das hätte man im Lauf von zehn Jahren schrittweise und somit weniger brutal tun können. Die Sozialisten waren nach ihrem ersten Wahlsieg 2002 mit dem eher farblosen Peter Medgyessy von ihrem Erfolg gegen den Publikumsmagneten Viktor Orban so überwältigt, dass sie die Reformen vergaßen.

Im Sommer 2004 wurde klar, dass dem damaligen Premier Medgyessy die Power fehlt. Zudem verlor er das Vertrauen der liberalen Koalitionspartner, als bekannt wurde, dass er als Finanzbeamter vor 1989 auch in den Diensten des kommunistischen ungarischen Geheimdienstes stand.

Von der Wirtschaft in die Politik

Medgyessys Nachfolger Gyurcsany hatte es erst zwei Jahre zuvor nach seiner grandiosen Unternehmerkarriere in die Politik verschlagen. Seine Berufung zum Regierungschef kam zu spät für richtige Reformen. Anderthalb Jahre vor Wahlen hätten einschneidende Maßnahmen die sichere Niederlage bedeutet. Orban und seine Fidesz wiederum sind die geistigen Ziehväter dieser Unruhen.

Orbans Bühne ist nämlich seit Jahren nicht das Parlament, sondern die Straße, nicht die geduldige Auseinandersetzung mit Sachthemen, sondern der primitive Aufschrei. Orban war in den letzten Jahren als Oppositionsführer im Parlament so gut wie nicht präsent. Sein Stuhl blieb buchstäblich leer. Der 43-Jährige, der, anders als Gyurcsany, nur die Politik als Beruf kennt, blüht rhetorisch auf, wenn er auf opernhaft inszenierten Wahlkampfveranstaltungen vor Hunderttausenden spricht.

Aber im Zwiegespräch mit Journalisten, oder in Fernsehduellen mit politischen Gegnern wirkt er fast schüchtern, weil es um Sachprobleme geht. Orbans Stil hat in den letzten acht Jahren einen Kulturwandel bewirkt. Politischen Fronten haben sich zum Hass verfestigt.

Hass statt Politik

Die ungarische EU-Parlamentarierin und Vertraute des Premiers, Alexandra Dobolyi, hat am Dienstag mit Gyurcsany telefoniert. Sie berichtet, der Premier habe von einem Rücktritt nichts wissen wollen. Diesen Gefallen wolle er Oppositionsführer Orban nicht tun. Gyurcsany habe auch angekündigt, auf eine Hexenjagd zu verzichten und nicht nach Verrätern in den eigenen Reihen zu suchen.

Dobolyi war bei Gyurcsanys nun notorischer Rede im Mai dabei. Sie erinnert sich noch genau an die Stimmung bei dem Treffen. Die Abgeordneten seien überrascht gewesen, manche hätten betreten auf ihre Füße geschaut, als sie die harten Worte des Premiers hörten, sagt sie am Tag nach den Unruhen in Budapest. Sein Eingeständnis, man habe die Wähler belogen, sei "aus dem Zusammenhang gerissen". Es sei Teil der Aufbruchs-Rhetorik des Premiers gewesen. "Die Ungarn werden erkennen, dass es ihm um das Interesse des Landes geht", sagt Dobolyi. "Am Ende wird er gestärkt hervorgehen."

Nun aber liegen mehr als 150 Verletzte in Krankenhäusern, es sind vor allem Polizisten. Vor dem weiträumig abgeriegelten Fernsehgebäude war am Dienstag wieder Ruhe eingekehrt. Es nieselte, Scherben wurden zusammengekehrt. Wenige Gehminuten entfernt waren die fünf Parlamentsparteien - angeblich auch Fidesz - dabei, um eine gemeinsame Stellungnahme zu den Krawallen zu ringen. Sollte dies gelingen, wäre es das erste Mal, dass sie sich auf etwas einigen. Das erste Mal nach zu langer Zeit.

© SZ vom 20. September 2001 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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