Türkei:Selbstdemontage

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Die nur knappe Niederlage im Referendum war ein sensationeller Erfolg für die Gegner der türkischen Verfassungsänderung. Doch die gemeinsame Front bröckelt und die größte Oppositionspartei zerlegt sich selbst. Das nützt vor allem einem - Präsident Erdoğan.

Von Mike Szymanski

Die türkische Opposition scheint unbelehrbar zu sein: Sie lernt nicht aus Niederlagen. Sonst wäre die AKP, die Machtmaschine von Recep Tayyip Erdoğan, nicht seit 15 Jahren allein an der Regierung. Die Partei schmiedet schon Pläne bis in das Jahr 2029. Solange könnte Erdoğan der neuen Verfassung zufolge Staatspräsident bleiben. So sicher fühlt sich die AKP. Die Opposition lernt aber auch nicht aus ihren Erfolgen: Ein solcher war ihr am 16. April gelungen, als sich immerhin knapp die Hälfte der Türken im Verfassungsreferendum dagegen aussprachen, Erdoğan mit einem Präsidialsystem und schier uneingeschränkter Machtfülle auszustatten.

Das Nein-Lager kam nach offiziellen Zahlen auf knapp 49 Prozent der Stimmen. Angesichts der Umstände der Wahl - in der Türkei herrscht der Ausnahmezustand, regierungskritische Medien wurden geschlossen und Oppositionspolitiker weggesperrt - ist das ein sensationelles Ergebnis. Jeder ahnt, wie es ausgefallen wäre, wenn es einen halbwegs fairen Wahlkampf gegeben hätte. Sogar am Wahltag wurde getrickst, während der Abstimmung wurden nicht gestempelte Stimmzettel zugelassen. Immerhin: Die Selbstbehauptungskräfte im Land waren stärker als gedacht. Nur hat sich der 49-Prozent-Spirit, das Gefühl, dass dieses Land mehr ist als nur Erdoğan, so atemberaubend schnell verflüchtigt, wie er gekommen war. Die Opposition konnte den Geist nicht bewahren. Ein Blick auf die größte Oppositionspartei, die säkulare CHP, zeigt: Sie zerstört ihn geradezu mutwillig.

Von der Schwäche der Opposition profitiert nur einer: Erdoğan

Deren Vorsitzender, Kemal Kılıçdaro- ğlu, führte den Unterstützern der Nein-Kampagne die eigene Machtlosigkeit gleich nach dem Referendum schonungslos vor Augen. Über die Unregelmäßigkeiten spricht heute fast niemand mehr, Kılıçdaroğlu hat sie nach kurzem Klagen hingenommen. Viele von denen, die sich aufgerafft hatten, trotz der widrigen Umstände ihre Stimme gegen Erdoğan abzugeben, fühlen sich heute betrogen. Es hatte geheißen, es käme auf ihre Stimme an - und dann kämpfte Kılıçdaroğlu nicht einmal ernsthaft für ihr Votum. Nun wollen Parteifreunde Kılıçdaroğlu stürzen. Politische Schwergewichte wie sein Vorgänger Deniz Baykal intrigieren, wo sie nur können, und tragen so dazu bei, die letzte einigermaßen intakte Oppositionspartei zu zerlegen. Bisher konnte Kılıçdaroğlu einen Sonderparteitag abwenden, aber der Preis ist hoch: Seine Kritiker überzieht er mit Ausschlussverfahren, andere geben freiwillig Spitzenämter ab. Die CHP, die bei Wahlen zuletzt auf 25 Prozent der Stimmen kam, macht sich als Machtfaktor überflüssig. Dabei fällt ihr die Hauptverantwortung in der neuen Zeit zu.

Mit dem Übergang zum Präsidialsystem verändert sich die politische Landschaft. Bald gibt es nur noch das Erdoğan-Lager und den oppositionellen Block - Kurdenpartei und Ultranationalisten, angeführt von der CHP. Die Parteien müssten zusammenarbeiten, um Erdoğans Macht einzugrenzen. Das sie einende Motiv könnte der Schutz der Demokratie sein. Bisher aber scheinen die Differenzen unüberbrückbar zu sein. Kılıçdaroğlus CHP hatte mitgestimmt, als das Parlament die Aufhebung der Immunität zahlreicher Abgeordneter beschloss. Das gab der Regierung das Mittel in die Hand, um die kurdische Oppositionspartei HDP faktisch zu zerschlagen. Deren Chefs und etliche Abgeordnete sitzen in Haft. Dies wird die Kurdenpartei Kılıçdaroğlu kaum verzeihen.

Die CHP wiederum vermag ihren engstirnigen Nationalismus mit ihm an der Spitze nicht zu überwinden. Die größte Oppositionspartei erscheint unfähig, sich der neuen Zeit anzupassen und selbst starke Momente zu ihren zu machen. Wer davon profitiert? Erst einmal nur einer. Erdoğan.

© SZ vom 09.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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