Türkei:Nacht ohne Ende

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Nach dem gescheiterten Militärputsch ist Präsident Recep Tayyip Erdoğan noch misstrauischer geworden. Mit größter Härte verfolgt er echte oder vermeintliche Gegner. So demontiert er den Staat.

Von Mike Szymanski

Zwar ist die Nacht des Putschversuches vorbei. Aber es wird in der Türkei seither nicht mehr wirklich Tag. Die Putsch-Generäle sind verhaftet. Ein Umsturz ist dennoch in vollem Gange. Tausende Richter und Staatsanwälte: abgesetzt oder inhaftiert. Akademiker: mit einem Ausreiseverbot belegt. Zehntausende Lehrer und Rektoren: rausgeworfen. Gegen 50 000 Menschen wird ermittelt. Die Jagd auf Verräter hat noch lange kein Ende. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan spricht von "Säuberungen". Allein schon die Wortwahl ist bedrückend. Tatsächlich demontiert Erdoğan diesen Staat.

Der 15. Juli 2016 wird das Land stärker als jedes andere Ereignis verändern, seitdem die islamisch-konservative AKP 2002 an die Regierung gekommen ist. Schon ist die Rede von der Wiedereinführung der Todesstrafe für Landesverräter. Dies würde die Türkei in die 1980er-Jahre zurück- und aus dem Kreis der EU-Kandidaten hinauskatapultieren. Ankara debattiert seit Monaten eine Verfassungsänderung. Die jetzige stammt noch aus den 1980er-Jahren, aus Putsch-Zeiten. Die neue vielleicht auch? Eine schwer erträgliche Vorstellung.

Misstrauisch und brutal verfolgt Erdoğan alle, die nicht für ihn sind

Für Erdoğan ist eine Urangst wahr geworden - jene, dass er durch einen Putsch gestürzt werden könnte. Er macht nun die zweite Wandlung durch, seitdem er an die Macht gekommen ist. Aus dem mutigen, dem Westen zugewandten Reformer wurde zunächst ein machtversessener Autokrat. Nun dürfte die Welt einen angstgetriebenen Herrscher erleben, der auf Rache sinnt. Das säkulare Militär war immer gegen ihn. Erdoğan hatte den Einfluss der Generäle zurückgedrängt. Er dachte, er hätte sie unter Kontrolle. Aber das stimmte nicht. Einem Spezialkommando, das den Auftrag gehabt haben soll, ihn "tot oder lebendig" nach Ankara zu bringen, konnte er nur knapp entkommen. Stärker als bisher wird Misstrauen seine Politik leiten.

Erdoğan wird fürchterliche Härte gegen alle zeigen, die es wagen, seinen Machtanspruch infrage zu stellen. Die Bevölkerung lebt seit Tagen in einem Ausnahmezustand, der am Mittwochabend auch offiziell ausgerufen wurde. Ihr Vertrauen ins Militär ist dahin, seitdem die Soldaten, die das Land eigentlich beschützen sollen, die Waffen auf die eigenen Leute gerichtet haben. Die Institutionen des Staates werden jetzt auf Linie gebracht. Sie dienen nach diesem Putschversuch nicht zuerst dem Staat, sondern Erdoğan. Aus einem "Sieg der Demokratie" - denn es waren die Bürger auf die Straße, die den Putsch stoppten - wird ein Sieg allein für Erdoğan.

Im Westen scheint man da und dort dem türkischen Präsidenten inzwischen alles Böse zuzutrauen. Die Anschuldigungen gipfeln in dem absurden, aber vielfach vorgetragenen Verdacht, Erdoğan könnte den Putsch selbst inszeniert haben, um seine Macht zu festigen. Das ist schon deshalb Unsinn, weil Erdoğan schon vor dem 15. Juli praktisch unangefochten an der Spitze des Staates stand. Doch auch ohne solche Verschwörungstheorien werden einem dieser Mann und dieses Land zunehmend unheimlich.

© SZ vom 21.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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