Türkei:Hoffnung trifft Gier

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Zwischenstopp in Istanbul: Ein syrischer Flüchtling prüft das Angebot eines Ladens, der Rettungswesten verkauft. (Foto: Emrah Gurel/AP)

Rettungswesten, Kontakte zu Schleusern, Einreisepapiere: Auf dem Istanbuler Aksaray-Platz bekommen Flüchtlinge, was sie dringend benötigen

Von Mike Szymanski, Istanbul

Was für ein stiller Basar, für türkische Verhältnisse: Niemand schreit, niemand trägt triumphierend seine Beute vor sich her. Keine ausladenden Gesten, keine Hektik. Und doch: Angebot trifft Nachfrage, Hoffnung die Gier. Man muss nur genau hinschauen. Aksaray, im Zentrum von Istanbul. Ein großer, liebloser Platz. Eine U-Bahn-Station. Ein Brunnen mit enttäuschend kleinen Fontänen. Ringsherum: suchende Blicke. 20 Meter entfernt steht ein Mann. Rote Daunenjacke. Die Tochter hängt ihm am Bein. Der Spielplatz ist in Sichtweite. Der Vater starrt aber aufs Handy. Tippt Nachrichten. Eine halbe Stunde vergeht. Ein Mann kommt aus dem Nichts. Man begrüßt sich - ein bisschen zu kurz für Bekannte. Und geht davon.

Aksaray - das ist Istanbuls Flüchtlingsdrehscheibe. Fast 700 000 Migranten haben sich seit Januar über die Türkei auf den Weg nach Europa gemacht. Hier und in den Straßen rings um diesen Platz finden sie alles, was sie brauchen: Rettungswesten für den Seeweg. Proviant, warme Unterwäsche. Kontakt zu den Schleusern und Papiere für die Reise. "In der Türkei gibt es eine regelrechte Industrie falscher Pässe", sagte der für Migrationsfragen zuständige Vizeminister Yannis Mouzalas am Montag.

Tags zuvor hatte Mouzalas die Pass-Identität eines Mannes veröffentlicht, dessen Dokument in Paris bei der Leiche eines der Selbstmordattentäters gefunden worden war. Ahmad al-Mohammad hatte offenbar dieselbe Route nach Europa genommen wie Tausende Flüchtlinge jeden Tag. Er war an Bord eines Bootes aus der Türkei mit 198 Flüchtlingen, das am 3. Oktober die griechische Insel Leros erreichte. Die Griechen hatten den Mann als Flüchtling registriert und seine Fingerabdrücke genommen. Ob der Pass echt ist, wird noch geprüft. Die Behörden sind alarmiert.

Syrische Pässe sind in Aksaray gerade gefragt, dies erzählt auch Mohammed. Man erfährt nur seinen Vornamen. Er kommt aus dem Irak und will nach Deutschland. Nichts soll die Reise noch gefährden. Mit einem syrischen Pass könne man seine Chancen auf Asyl in Europa steigern. Im Moment hängt er in Istanbul fest, weil seine Ersparnisse aufgebraucht sind. "No money!" Das heißt: warten und zuschauen. Er sitzt auf der Mauer des Brunnens wie so viele andere junge Männer und einige wenige Familien. In den Nebenstraßen vermieten wortkarge Geschäftsmänner Zimmer an Flüchtlingsgruppen für 100 türkische Lira die Nacht, gut 30 Euro. Im Schaufenster eines Geschäfts hängt ein gemaltes Alpenpanorama. Auch das kann man hier kaufen.

Der Zeitung Habertürk zufolge würden Menschenhändler allein in der Türkei einen Umsatz von geschätzt zehn Milliarden Dollar machen. Die Preise für Papiere beginnen bei 500 bis 600 Euro. Für Fälscher stellt der syrische Pass keine wirklich große Herausforderung dar. Er ist hier aber eben auch nur ein Produkt von vielen. Wenn die Terrormiliz Islamischer Staat Kämpfer auf die Flüchtlingsroute schicken will, dann dürften Papiere ein geringes Problem sein. Wie aus Sicherheitskreisen verlautet, hätten die Terrorkämpfer bei ihren Eroberungszügen mindestens 1000 syrische Blanko-Ausweise erbeutet, von denen Exemplare bereits auf dem Schwarzmarkt aufgetaucht seien.

Die Flucht auf dem See- und Landweg kostet zwischen 1000 und 2000 Euro, erfährt man in Aksaray. Für einen deutschen Reisepass, mit dem man sich angeblich durch die Kontrollen am Flughafen schummeln kann, müsse man schon 8000 Euro auf den Tisch legen. In der nahegelegenen Polizeistation räumen Beamte ein, dass Profis mit internationalen Netzwerken am Werk seien. Details verraten sie nicht.

Gespräch mit einem, der das Schleuser- und Passfälschergeschäft gut kennt, er bittet aber darum, anonym bleiben zu dürfen: Die Königsdisziplin sei die Flucht mit dem Flugzeug. Die Schleuser hätten ihre Tricks, er kennt viele davon: Angenommen, ein Syrer möchte nach Deutschland und hat Geld für die Flucht und einen syrischen Pass. In diesem Fall organisiert er sich in Aksaray einen EU-Pass. Im besten Fall handelt es sich um einen gestohlenen Pass, dessen Inhaber ihm ähnlich sieht. Dann muss das Dokument nicht manipuliert werden.

Er kauft anschließend zwei Flugtickets: Eines nach Deutschland, eines in ein unverdächtiges Nicht-EU-Land und verzichtet darauf, Gepäck aufzugeben. Das erspart die erste Kontrolle. Bei der Passkontrolle zeigt er seinen echten syrischen Pass und das Flugticket in das Nicht-EU-Land vor. In der Transitzone geht er aber zum Flieger nach Deutschland und winkt beim Einsteigen mit dem EU-Pass. Dort ist die Kontrolle nicht mehr so streng. Bekannt sind auch Fälle, in denen Schleuser mitfliegen, um die EU-Papiere noch im Flugzeug wieder einzusammeln. Für den nächsten Job. Der Flüchtling hat sein Ziel dann ja schon erreicht.

© SZ vom 18.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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