Türkei:Einer Institution wird der Prozess gemacht

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Sie ist die älteste Zeitung des Landes: In Istanbul beginnt der Prozess gegen 17 "Cumhuriyet"-Mitarbeiter. Sie sollen den Terrorismus unterstützt haben.

Von Luisa Seeling, München

"Zur Hölle mit der Despotie. Lang lebe die Freiheit", steht auf dem Plakat eines Demonstranten. Vor dem Gericht in Istanbul versammeln sich Aktivisten und Kollegen der angeklagten Journalisten. (Foto: Murad Sezer/Reuters)

Sie machen weiter, immer noch. Tag für Tag kommt die Redaktion der linksliberalen Cumhuriyet in Istanbul zusammen, um die Ausgabe des nächsten Tages fertigzustellen. Trotz Mord- und Anschlagsdrohungen, gegen die eine Sicherheitsschleuse am Eingang schützen soll, trotz des politischen Drucks, der immer größer geworden ist. Und obwohl Teile der Belegschaft ganz ausfallen, weil sie sich vor Gericht verantworten müssen.

An diesem Montag hat der Prozess gegen 17 Cumhuriyet-Mitarbeiter begonnen, unter ihnen Murat Sabuncu, der amtierende Chefredakteur der Zeitung, Akın Atalay, Vorsitzender der herausgebenden Stiftung, und der Karikaturist Musa Kart. Zehn der Angeklagten sitzen seit 267 Tagen in Untersuchungshaft, ein weiterer, der prominente Investigativ-Journalist Ahmet Şık, seit 206 Tagen; auf ihrer Titelseite zählt Cumhuriyet die Tage, daneben zeigt sie Fotos der Inhaftierten, in jeder Ausgabe. Fünf Angeklagte befinden sich derzeit auf freiem Fuß. Der frühere Chefredakteur Can Dündar ist in Abwesenheit angeklagt, er lebt derzeit im Exil in Deutschland, nachdem er bereits in einem früheren Verfahren zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.

Als Beleg dienen Artikel und Tweets, aber auch Kontakte zu angeblichen Gülen-Anhängern

Die Anklage wirft den Männern Terrorunterstützung vor, im Falle eines Schuldspruchs drohen ihnen Haftstrafen von bis zu 43 Jahren. Sie sollen wahlweise die Gülen-Bewegung, die militante Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die linksextremistische DHKP-C unterstützt haben. Alle drei gelten in der Türkei als Terrororganisationen. Die Regierung hält den in den USA lebenden islamischen Prediger Fethullah Gülen für den Drahtzieher des gescheiterten Putschversuchs vor einem Jahr.

Als Beleg für die konspirativen Umtriebe der Angeklagten führt die Staatsanwaltschaft Artikel und Tweets an, aber auch Kontakte zu angeblichen Gülen-Anhängern. So soll der Kolumnist Kadri Gürsel vor dem Umsturzversuch nicht nur regierungskritische Artikel veröffentlicht haben, sondern auch SMS und Anrufe von vermeintlichen Gülenisten erhalten haben.

Nun ist Gürsel, einer der bekanntesten Journalisten des Landes und Vorstandsmitglied des International Press Institute; dass ihn bedrängte Kollegen zu kontaktieren versuchen ist nicht ungewöhnlich. So hatten sich im Frühjahr 2016 viele ehemalige Zaman-Mitarbeiter an ihn gewandt, nachdem die Zeitung wegen ihrer Nähe zur Gülen-Bewegung geschlossen wurde. Eine Auswertung der Telefongesellschaft ergab, dass Gürsel einen Großteil der Nachrichten gar nicht geöffnet hatte. Die Ankläger sehen darin trotzdem einen Beleg für Terrorunterstützung.

Gürsel nannte die Vorwürfe am Montag "erfunden". Die Staatsanwaltschaft könne keinen einzigen echten Beweis finden, sagte er in einer ersten Anhörung vor Gericht. Man werfe ihm Kontakte vor, die er entweder nicht gehabt habe oder die im Zusammenhang mit seiner Arbeit gestanden hätten. Auch andere Angeklagte weisen jede Schuld zurück. Cumhuriyet hält den Prozess für eine politische Kampagne und verweist darauf, dass sie über alle drei Organisationen kritisch berichtet hat. Scharfe Kritik kommt auch aus dem Ausland, wo das Verfahren mit großer Aufmerksamkeit verfolgt wird. Der Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen (RoG), sagte zum Prozessauftakt, "der gesamte Journalismus in der Türkei" stehe in Istanbul vor Gericht. "Journalisten werden wie Terroristen behandelt, nur weil sie ihre Arbeit gemacht haben." Das Auswärtige Amt teilte am Montag mit, dass Mitarbeiter des deutschen Generalkonsulats den Prozess beobachteten. Der deutsche SPD-Europaabgeordnete Arne Lietz, der das Verfahren ebenfalls begleitet, berichtete von chaotischen Szenen: "Wir mussten uns den Zutritt wirklich erkämpfen", er habe sich durch Brüllen verständigen und den Diplomatenpass vorzeigen müssen, um eingelassen zu werden, sagte Lietz. Das Verfahren soll in den nächsten Tagen fortgesetzt werden. Für Freitag wird eine Entscheidung erwartet, ob Inhaftierte zeitweise freigelassen werden. Die Arbeit türkischer Journalisten ist immer gefährlicher geworden. In der RoG-Rangliste der Pressefreiheit steht das Land auf Platz 155 von 180. Mehr als 160 Journalisten säßen in türkischen Gefängnissen, mehr als in jedem anderen Land der Welt.

Dass der Cumhuriyet-Prozess besonders aufmerksam verfolgt wird, liegt auch daran, dass das Blatt eine Art Institution ist: Das säkular ausgerichtete Medium wurde 1924 gegründet und ist die älteste Zeitung der Republik. Symbolträchtig auch das Datum des Prozessbeginns: Den 24. Juli feiern türkische Journalisten als Tag der Pressefreiheit. 1908 wurde an diesem Tag im Osmanischen Reich die Zensur aufgehoben.

© SZ vom 25.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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