Türkei:Eine weitere Hürde fällt

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Das Parlament in Ankara beschließt ein neues Wahlgesetz. Die Opposition sieht darin eine weitere Maßnahme, um Erdoğans Macht zu zementieren - doch dessen Wiederwahl ist Experten zufolge alles andere als garantiert.

Von Luisa Seeling, München

Entspannter Gruß: Bislang hat die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in der Großen Nationalversammlung eine komfortable Mehrheit. (Foto: Kayhan Ozer/AP)

Wer in jüngster Zeit auf die Türkei blickte, konnte den Eindruck gewinnen, dass sich die Machtverhältnisse völlig zugunsten des Präsidenten verschoben haben. Schon jetzt führt Recep Tayyip Erdoğan die Geschäfte, obwohl der Wechsel zum Präsidialsystem formal erst mit den nächsten Wahlen vollzogen wird. Der Ausnahmezustand ist zur Normalität geworden. Vieles wird per Dekret beschlossen; bei allem anderen kann sich der Präsident auf die Parlamentsmehrheit seiner islamisch-konservativen Partei verlassen, der AKP, sowie auf die Stimmen ihres Zweckpartners, der ultranationalistischen MHP.

Mit den Stimmen von AKP und MHP hat in der Nacht zu Dienstag das Parlament in Ankara ein neues Wahlgesetz beschlossen, gegen heftigen, letztlich chancenlosen Widerstand der Opposition. Umstritten ist das Gesetzespaket vor allem, weil es die Zehnprozenthürde für den Einzug ins Parlament lockert: Künftig sollen Wahlbündnisse erlaubt sein, Parteien sollen sich also zusammenschließen dürfen, um diese extrem hohe Hürde zu knacken. AKP und MHP hatten bereits angekündigt, bei den nächsten Wahlen eine "Volksallianz" schließen zu wollen. Die MHP würde so die Mehrheit der AKP absichern, gleichzeitig müsste sie nicht um ihren eigenen Einzug ins Parlament bangen; derzeit steht die Partei je nach Umfrage bei gerade mal sechs bis zehn Prozent. Die AKP wiederum kommt laut den Instituten Sonar und Konsensus auf 35 bis 45 Prozent der Stimmen. Der Präsident selbst stößt auf eine Zustimmung von 46 Prozent, für eine absolute Mehrheit in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl reicht das nicht. Regulär soll diese im November 2019 stattfinden, zum ersten Mal zeitgleich mit der Parlamentswahl, allerdings halten sich hartnäckig Gerüchte, dass die Abstimmungen vorgezogen werden könnten.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Kritik an dem neuen Wahlgesetz nicht nur von der kemalistischen Mitte-links-Partei CHP kommt, sondern auch von der prokurdischen HDP. Als die Zehnprozenthürde Anfang der Achtzigerjahre nach einem blutigen Militärputsch eingeführt wurde, sollte sie vor allem kurdische Parteien aus dem Parlament heraushalten. Von der jüngsten Reform aber dürften vor allem AKP und MHP profitieren - weshalb die Opposition bis zur letzten Minute Sturm lief gegen die Lockerung. Von einem "Moment der Schande für die türkische Demokratie" sprach der CHP-Vizefraktionschef Özgür Özel nach der Abstimmung.

Befürchtungen wecken auch weitere Änderungen: So sollen die Wahlkreise neu zugeschnitten werden. Künftig sollen außerdem auch Wahlzettel ohne Stempel der Wahlkommission als gültig gezählt werden; Kontrollen in den Wahllokalen sollen nicht mehr Vertreter verschiedener Parteien, sondern Funktionäre vor Ort vornehmen - in der Regel sind das Angehörige der Regierungspartei. All das schürt bei deren Gegnern die Angst, dass das neue Gesetz in erster Linie Manipulationen erleichtern soll. Schon beim Verfassungsreferendum im April 2017 hatte das Erdoğan-kritische Nein-Lager Unregelmäßigkeiten beklagt.

Das Wahlgesetz könnte maßgeblich zur Zementierung von Erdoğans Macht beitragen - das ist die eine Lesart. Es gibt aber noch eine andere: Die Parteienlandschaft in der Türkei ist keineswegs erstarrt, im Gegenteil, es gibt neue Bewegung, vor allem das konservative Lager fächert sich auf. Erdoğan kann sich seiner Mehrheiten nicht mehr sicher sein, weshalb er den Schulterschluss mit der MHP sucht; die wiederum ist geschwächt, seit sich eine Gruppe um die frühere Innenministerin Meral Akşener abgespalten und die Iyi Parti ("gute Partei") gegründet hat. Je nach Institut und je nachdem, ob unentschiedene Wähler einbezogen werden, sagen Umfragen der Iyi-Partei derzeit bis zu 12,5 Prozent voraus. Akşener gilt als eine der wenigen, die Erdoğan ernsthaft gefährlich werden könnten.

Die vielleicht kurioseste Entwicklung ist, dass nun eine Partei als mögliches Zünglein an der Waage gehandelt wird, die bisher ein Randdasein fristete und in vergangenen Wahlen kaum über zwei Prozent hinauskam: die islamistische Saadet- oder "Glückseligkeits"-Partei. Sie hat gemeinsame Wurzeln mit der AKP, galt aber immer als die islamischere Kraft; heute gibt sich Saadet moderat und kritisiert die Regierungsführung der AKP, etwa den anhaltenden Ausnahmezustand. Die Partei könnte, glauben Experten, Erdoğans AKP entscheidende Stimmen stehlen. Es gibt Gerüchte, dass der noch immer sehr beliebte Ex-Präsident und AKP-Mitgründer Abdullah Gül für Saadet antreten könnte. Erdoğan ist also noch nicht am Ziel. Oder, wie es der Politik-Analyst Mustafa Akyol auf al-Monitor formuliert: Das "Ende der Geschichte" ist für die Türkei noch nicht gekommen.

© SZ vom 14.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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