Türkei:Die Strategie des Ausklammerns

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Der russische Staatspräsident Wladimir Putin (rechts) ist am Dienstag zu Gesprächen mit seinem türkischen Kollegen in Ankara eingetroffen. (Foto: Adem Altan/AFP)

Russland und die Türkei rücken enger zusammen - und arbeiten nun am ersten türkischen Atomkraftwerk

Von Luisa Seeling, München

2023 steht in der Türkei ein wichtiges Jubiläum an, das Land wird das einhundertjährige Bestehen der Republik feiern, die Mustafa Kemal Atatürk im Oktober 1923 ausrief. Für türkische Politiker ist es auch ein beliebtes Datum für die Terminierung von Großprojekten. So ist es auch im Fall der Nuklearanlage im südtürkischen Akkuyu: Pünktlich zum Festjahr soll der erste Reaktor fertiggestellt sein, an diesem Montag erhielt Rosatom, der russische Staatskonzern, der die Anlage federführend baut, die dafür notwendige Lizenz der türkischen Atomenergiebehörde. Am Dienstag dann trafen sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan und Russlands Staatschef Wladimir Putin in Ankara, um per Videoschalte den Baubeginn des Reaktors einzuläuten. Dies sei ein "historischer" Moment in den bilateralen Beziehungen, sagte Erdoğan. "Heute wohnen wir nicht nur dem Bau des ersten türkischen Atomkraftwerkes bei", sagte Putin, "sondern wir schaffen auch die Grundlage für die Atomindustrie in der Türkei. Wir gründen eine neue Branche." Akkuyu ist das erste Kernkraftwerk in dem Land. Wenn die Anlage - voraussichtlich 2025 - komplett fertiggestellt ist, soll sie bei voller Auslastung mehr als zehn Prozent des türkischen Strombedarfs decken. Mit dieser Menge könnte man die 15-Millionen-Einwohner-Stadt Istanbul versorgen. Das gemeinsame Großprojekt dürfte die ohnehin enge Verflechtung zwischen den beiden Ländern weiter vertiefen. Bis vor wenigen Jahren war das Verhältnis von Konkurrenz und Misstrauen geprägt, im November 2015 sah es sogar kurz so aus, als könnte es zum militärischen Konflikt kommen: Die Türkei schoss an der Grenze zu Syrien einen russischen Kampfjet ab. Moskaus Sanktionen - Streichung aller Charterflüge an die türkische Riviera, Importstopp für Agrarprodukte - trafen die türkische Wirtschaft empfindlich. Erdoğan entschuldigte sich bei Putin und leitete so die Versöhnung ein.

An diesem Mittwoch wollen sich Putin, Erdoğan und der iranische Präsident zum Syriengipfel treffen

Seitdem zelebrieren die beiden Langzeitherrscher demonstrativ ihre Nähe, was sich in reger Besuchsdiplomatie und vor allem in gemeinsamen Großprojekten äußert. Neben Akkuyu bauen die Länder noch die Pipeline TurkStream, die russisches Gas in die Türkei transportieren soll. Im Dezember unterzeichnete Ankara zudem ein Papier, das den Kauf des russischen Langstreckenraketen-Abwehrsystem S-400 besiegelte. Das Geschäft verärgerte die anderen Nato-Staaten, zum einen, weil fraglich ist, inwiefern sich das System in die Strukturen der Nato integrieren lässt, zum anderen, weil die Türkei mit dem Deal zeigt, dass sie auf westliche Rüstungshilfe nicht länger angewiesen sein will. Dass Moskau und Ankara international in der Kritik stehen - etwa wegen des Einmarschs im nordsyrischen Afrin, der Krim-Besetzung und der Menschenrechtslage -, hat die beiden Länder noch stärker zusammengeschweißt. Als vergangene Woche viele Nato- und EU-Mitglieder beschlossen haben, als Antwort auf den Giftanschlag auf den Agenten Sergej Skripal in Großbritannien russische Diplomaten auszuweisen, schloss sich die Türkei nicht an.

All das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Liste der potenziellen Streitpunkte zwischen Ankara und Moskau lang ist: die Besetzung der Krim zum Beispiel, wo das muslimische Turkvolk der Tataren lebt, oder der Zypern-Konflikt, in dem Russland die griechische Seite unterstützt. Beide Seiten wirken jedoch entschlossen, diese Themen auszuklammern, um in anderen Fragen kooperieren zu können. Im Falle Syriens ist der Spagat besonders bemerkenswert: Moskau und Ankara verfolgen teils konträre Interessen, haben aber das sogenannte Astana-Format eingerichtet, um - gemeinsam mit der iranischen Regierung - über die Zukunft des Bürgerkriegslandes zu beraten.

An diesem Mittwoch wollen sich Putin, Erdoğan und Irans Präsident Hassan Rohani erneut zum Dreiergipfel treffen. Thema dürfte unter anderem die Provinz Idlib sein, wo Russland und die Türkei um Einfluss konkurrieren; Idlib gehört zu den sogenannten Deeskalationszonen, die das Astana-Trio im vergangenen Jahr eingerichtet hatte, in vielen Gebieten wird allerdings mit unverminderter Wucht weitergekämpft.

Auch um den türkischen Einmarsch in die kurdische Enklave Afrin im Nordwesten Syriens dürfte es in den Gesprächen gehen. Moskau hatte die Kurden lange Zeit unterstützt, Ankara hingegen sieht in der syrisch-kurdischen Miliz YPG eine Terrororganisation. Bisher hat Russland das türkische Militär bei seiner "Operation Olivenzweig", so der Name der Afrin-Offensive, gewähren lassen.

Dass US-Präsident Donald Trump vor einigen Tagen ein baldiges Ende des amerikanischen Syrien-Einsatzes angekündigt hat, dürfte das Geschacher um Einflusszonen zusätzlich anheizen.

© SZ vom 04.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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