Türkei:Die Ausnahme ist die Regel

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Zum Ärger von Opposition und Wirtschaft verlängern die Regierung in Ankara und das von der AKP dominierte Parlament den Notstand um weitere drei Monate. Im Verhältnis zur Europäischen Union setzt Präsident Erdoğan hingegen auf Normalisierung.

Von Luisa Seeling und Daniel Brössler, Brüssel/München

Eineinhalb Jahre liegt der gescheiterte Putschversuch in der Türkei mittlerweile zurück. Seitdem herrscht im Land der Ausnahmezustand, die Führung in Ankara regiert per Notstandsdekret. Nun soll der Ausnahmezustand erneut verlängert werden, zum sechsten Mal um drei Monate. Das Kabinett traf den Beschluss nach einer Empfehlung des Nationalen Sicherheitsrats, dem Regierungsmitglieder und die Militärführung angehören. Die Zustimmung des Parlaments, die eingeholt werden muss, galt als Formsache; dort stellt die Regierungspartei AKP die absolute Mehrheit der Abgeordneten. Er hoffe, diese Verlängerung sei die letzte, hatte Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu vor einer Woche gesagt. "Ich hoffe das ernsthaft." Das aber hänge von der Situation in einem Vierteljahr ab.

Unter dem Ausnahmezustand sind zahlreiche Grundrechte wie das Demonstrations- und Versammlungsrecht stark eingeschränkt. Die Regierung hat außerdem regen Gebrauch von Dekreten gemacht, um Tausende Menschen aus dem öffentlichen Dienst zu entlassen. Seit der Ausrufung des Notstands am 20. Juli 2016 sind mehr als 50 000 Menschen festgenommen und 150 000 Mitarbeiter im öffentlichen Dienst, in der Justiz und in den Sicherheitskräften entlassen worden. Den meisten von ihnen wird Nähe zur Bewegung des Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen. Der in den USA lebende Anführer der sogenannten Gülen- oder Hizmet-Bewegung gilt den Regierenden in Ankara als Drahtzieher des Putschs. Die Dekrete sind vor dem Verfassungsgericht nicht anfechtbar.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und die Regierung begründen den anhaltenden Ausnahmezustand mit dem Kampf gegen den Terror und anderen Gefahren, denen das Land ausgesetzt sei. Anfangs hatten Teile der Opposition den Notstand noch mitgetragen, inzwischen aber wird die Kritik an der Umgehung des normalen parlamentarischen Prozesses lauter. Nach Zählung der regierungskritischen Zeitung Cumhuriyet vom Dezember hat die Regierung seit Juli 2016 bereits 30 Dekrete erlassen; nur fünf wurden dem Parlament zur Debatte vorgelegt. Auch in der Wirtschaft gibt es Widerstand gegen die Verlängerung des Ausnahmezustands. Ein Staat, der sich selber das Etikett "instabil" anheftet - das könnte ausländische Investoren abschrecken, so die Befürchtung.

Nach außen bemüht sich Ankara um Normalisierung und umwirbt plötzlich wieder die EU

Im Verhältnis zu Europa bemüht sich die Türkei unterdessen merklich um Entspannung. Dazu passen Überlegungen, wieder einen EU-Türkei-Gipfel zu veranstalten und damit ein wenig Normalität zu demonstrieren. Für Ende März sei ein Spitzentreffen zwischen dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und führenden Vertretern der EU geplant, berichtete die Welt. Fest eingeplant ist der Termin allerdings noch nicht. Es habe diesbezüglich Überlegungen gegeben, "aber zu diesem Zeitpunkt können wir so ein Treffen nicht bestätigen", sagte ein Sprecher der EU-Kommission. Deren Präsident Jean-Claude Juncker habe stets das gegenseitige Interesse an einer Partnerschaft betont, aber auch darauf hingewiesen, dass die Türkei sich in "großen Schritten" von der EU wegbewegt habe. "Kein Fortschritt in unseren Beziehungen wird möglich sein, solange Journalisten in türkischen Gefängnisses sitzen", sagte der Sprecher.

© SZ vom 19.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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