Türkei:Der Wendepunkt

Lesezeit: 1 min

Überall im Land gedenken Menschen der Opfer des Putschversuchs vor zwei Jahren. Präsident Erdoğan besucht Feiern in Ankara und Istanbul.

Von Luisa Seeling

Der 15. Juli 2018 ist nicht nur der zweite Jahrestag des Putschversuchs in der Türkei, bei dem mehr als 250 Menschen ums Leben kamen. Es ist auch ein Tag, an dem sich die Entwicklungen der vergangenen Jahre zu großer Symbolik verdichten. Gerade erst ist Recep Tayyip Erdoğan, der Mann, dem der Umsturzversuch galt, im Präsidentenamt bestätigt worden; am vergangenen Montag wurde er vereidigt, am gleichen Tag stellte er sein Kabinett vor. Damit ist der historische Wechsel vollzogen, die Türkei hat nun ein Präsidialsystem. Eine knappe Mehrheit der Wähler hatte sich im vergangenen Jahr per Volksentscheid für die Verfassungsänderung ausgesprochen.

Beides, die Präsidentschafts- und Parlamentswahl Ende Juni und auch das Referendum 2017, fanden im Ausnahmezustand statt. Diesen will die Regierung nun aufheben, oder genauer: Nach sieben Verlängerungen will sie ihn nicht mehr erneuern, wenn er am 19. Juli fristgemäß ausläuft. Sie löst damit ein Versprechen aus dem Wahlkampf ein. Dies bedeute aber nicht, dass die Türkei in ihrem Kampf gegen den Terror nachlasse, versichert ein Sprecher Erdoğans. Auch sei nicht ausgeschlossen, dass der Ausnahmezustand im Fall "sehr, sehr außergewöhnlicher Umstände" wieder eingeführt werden könnte.

Vertreter aller politischen Lager haben den Putschversuch als "Wendepunkt" bezeichnet. Allerdings meinen sie nicht unbedingt dasselbe. Die Opposition wirft der AKP-Regierung vor, mit Massenentlassungen und -verhaftungen ein Klima der Angst geschaffen zu haben. Aufseiten der AKP-Regierung verweist man lieber auf den heldenhaften Kampf der Türken um ihre Demokratie. Tatsächlich waren in jener Nacht Tausende auf die Straße gegangen, um die Putschisten an der Machtübernahme zu hindern. Die, die dabei ums Leben kamen, gelten offiziell als "Märtyrer".

Vor allem ihrer wurde bei den Veranstaltungen am Sonntag gedacht. Staatspräsident Erdoğan betete in einer Moschee auf dem Gelände seines Präsidentenpalasts in Ankara für die Opfer, später nahm er in Istanbul an einer Gedenkfeier auf der ersten Bosporusbrücke teil. Dort stellten sich in der Putschnacht Zivilisten den aufständischen Soldaten entgegen, auf beiden Seiten gab es Tote. Die Brücke wurde in "Brücke der Märtyrer des 15. Juli" umbenannt. Die Regierung macht den in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich. Bis heute aber sind die Hintergründe nicht vollständig aufgeklärt, zahlreiche Prozesse gegen mutmaßliche Putschisten laufen noch.

© SZ vom 16.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: