Türkei:Beispiellose Wende

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Erst hielt Erdoğan sich in Syrien raus, dann ließ er Bodentruppen einrücken, nun will er Frieden stiften. Doch der verlustreiche Kampf um das nordsyrische al-Bab stellt den türkischen Präsidenten zunehmend vor Legitimationsprobleme.

Von Luisa Seeling, München

Es war schon starker Tobak, was der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan in Richtung USA vom Stapel ließ. Anlass seines Auftritts vor der Presse am Dienstagabend war eigentlich der Besuch des guineischen Präsidenten Alpha Condé in Ankara. Doch natürlich stand der Krieg in Syrien im Mittelpunkt, insbesondere der Kampf um die vom "Islamischen Staat" (IS) gehaltene nordsyrische Stadt al-Bab. Die Türkei hat dabei allein in der vergangenen Woche fast 20 Soldaten verloren, ein Umstand, der die Regierung immer mehr in Erklärungsnot bringt.

Und so nutzte Erdoğan seinen Auftritt, um gegen die internationale Anti-IS-Koalition auszuteilen. Der Präsident klagte über mangelnde Unterstützung - die Koalitionskräfte hielten "leider nicht, was sie versprochen haben". Und er erhob schwere Vorwürfe: "Sie haben uns beschuldigt, Daesch zu fördern", sagte er, das arabische Akronym für den IS verwendend. "Jetzt unterstützen sie Terror-Gruppen einschließlich Daesch, YPG, PYD." Es gebe Film- und Fotobeweise dafür. Die syrisch-kurdischen YPG-Milizen gelten als Ableger der militanten Kurdenorganisation PKK und sind Partner der USA im Kampf gegen den IS.

"Unsere Märtyrer schmerzen uns", sagt der türkische Präsident über die vielen getöteten Soldaten

Die Antwort des US-Außenministeriums kam prompt: Das sei "lächerlich", sagte ein Sprecher. Man unterstütze die YPG taktisch, liefere aber keine Waffen. Und schon gar nicht unterstütze man den IS. In der Tat ist der Vorwurf, die Amerikaner unterstützten den IS, abgewegig. Doch Erdoğans Poltern richtete sich wohl auch weniger nach außen als nach innen. Die Türkei vollzieht in diesen Tagen eine beispiellose Wende in ihrer Syrien-Politik. Jüngster Höhepunkt dieses Schwenks war am Mittwoch die Nachricht, dass die Türkei und Russland sich auf den Vorschlag einer Waffenruhe in Syrien geeinigt hätten.

Begonnen hatte das Umsteuern in der Syrien-Politik schon im August, als die Türkei in Syrien eine Bodenoffensive begann, mit der sie sunnitische Rebellen unterstützte. Jahrelang hatte man sich gefürchtet, hineingezogen zu werden in den "syrischen Treibsand"; plötzlich war man mittendrin. Zwar besteht die Türkei laut ihrem Außenminister immer noch darauf, dass der syrische Diktator Baschar al-Assad abdanken muss. Wie sich diese Forderung in die Annäherung an Assads Schutzmacht Russland einfügen wird, bleibt abzuwarten. Nur an dem Ziel, ein Erstarken der Kurden in Nordsyrien zu verhindern, wird Ankara wohl eisern festhalten.

Dass immer mehr türkische Soldaten bei der Operation "Schutzschild Euphrat" sterben, spielt Erdoğan nicht gerade in die Hände, da kann die regierungstreue Presse noch so viele getötete IS-Kämpfer vermelden. Verglichen mit den Opferzahlen der USA und Russlands, schreibt der Kommentator Fehim Taştekin in der Online-Zeitung al-Monitor, "sind die türkischen Verluste in Syrien zu hoch". Er rechnet vor: Seit 2014 starb nur ein US-Soldat in Syrien, die Russen verloren 23 Soldaten seit September 2015. Die Türkei habe in vier Monaten hingegen fast 40 Soldaten verloren. Besonders verstörend wirkte ein vergangene Woche aufgetauchtes Video des IS, das die Verbrennung zweier türkischer Soldaten zeigte. Die Regierung blockierte den Zugang zu sozialen Netzwerken, um die Verbreitung des Clips zu verhindern, das Verteidigungsministerium zweifelte die Echtheit an. Das ändert nichts daran, dass sich die Menschen fragen, ob der Preis für den Einsatz nicht zu hoch ist.

Der Präsident begegnet Zweifeln mit einer Mischung aus Einschwörungs-Rhetorik und Aktionismus. "Unsere Märtyrer schmerzen uns, aber damit ein Gebiet ein Land ist, braucht es Märtyrer", sagte er. Die nach dem Attentat auf den russischen Botschafter intensivierte Diplomatie zwischen Erdoğan und Russlands Präsident Wladimir Putin wird von türkischen Blättern als Erfolg bejubelt. "Wir werden die Sache in Astana lösen", titelte Mittwoch die konservative Vatan in Anspielung auf die von Russland, Türkei und Iran angestrebten Syrien-Gespräche. Die Türkei werde ihren Weg "entschlossen" weitergehen, betonte der Präsident. Ein Hürriyet-Kolumnist schreibt, der Präsident wolle wohl andeuten, dass "die Präsenz der Türkei in Syrien nicht in Tagen, Wochen oder Monaten gezählt werden" könne.

© SZ vom 29.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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