Tierschutz:Wie ihnen der Schnabel gewachsen ist

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Minimal gekürzter Schnabel: Deutschland probt die Tierschutzwende. Zwei Pilotprojekte gibt es allein in Niedersachsen. (Foto: Julian Stratenschulte/PA/dpa)

Ein Projekt zur Haltung von Legehennen zeigt: Auch mit ungestutztem Mundwerkzeug können sie schöne Eier legen. Aber damit sie einander nicht blutig picken, brauchen sie Fürsorge. Das kostet Geld.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Vor einer Woche war der Termin mit dem Schlachter, und jetzt ist der Landwirt Henner Schönecke die Hühner mit den natürlichen Messern im Gesicht erst mal wieder los. Ein Jahr lang war Schöneckes Geflügelhof in Neu Wulmstorf eingebunden in ein Pilotprojekt des Bundes zur tierfreundlicheren Legehennen-Haltung. Ein Jahr lang hat Schönecke Tausende von Hennen beaufsichtigt, die einen spitzen, naturbelassenen Schnabel hatten, keinen beschnittenen wie seit Jahrzehnten in der Eier-Produktion üblich. Aufmerksam hat er die Bewegungen in der Herde bewacht, war er gefasst darauf, dass die Tiere anfangen könnten, einander blutig zu picken. Und nun? Sein Fazit? Kann man das Risiko eingehen, die Hennen im Stall mit scharfem Mundwerkzeug durcheinanderlaufen zu lassen? Schönecke findet keine eindeutige Antwort. "Die Leistung war sehr gut." Viele schöne Eier haben die Hennen gelegt. Aber: "Die Mortalität war doppelt so hoch wie erhofft." Schönecke hat bei dem Projekt gelernt, dass die Henne der Zukunft mehr Fürsorge denn je braucht.

Deutschland probt die Tierschutz-Wende. Allein in Niedersachsen, dem produktivsten deutschen Agrarland, laufen derzeit zwei größere Projekte: eines mit 100 000 Legehennen in Bodenhaltung, finanziert vom Land, wissenschaftlich betreut von der Tierärztlichen Hochschule Hannover und der Hochschule Osnabrück. Und ein zweites mit insgesamt 200 000 Hennen in 20 zumeist niedersächsischen Betrieben mit Boden-, Freiland und ökologischer Hennenhaltung, das der Bund fördert und welches die Agraringenieurin Inga Garrelfs von der Landwirtschaftskammer in Oldenburg betreut. Der Großversuch soll zeigen, dass eine intensive Legehennen-Wirtschaft auch dann möglich ist, wenn man den Tieren nicht in der Aufzucht die Schnabelspitze abnimmt und ihnen damit Leid und Schmerz zufügt.

Ansätze von Kannibalismus haben die Landwirte schnell wieder im Griff

Die Abschlussberichte sollen im nächsten Frühjahr vorliegen, aber schon jetzt zeichnet sich ab, was drinstehen wird. Tendenz positiv. Peter Hiller, Referent für Geflügel an der Landwirtschaftskammer Niedersachsen, bestätigt zwar, dass die Schönecke-Hennen mit intaktem Schnabel teilweise etwas gerupft aussahen und die Verlustrate durch eine Infektion am Ende der Legeperiode angestiegen ist. Aber: "In anderen Projektbetrieben war die Mortalität genauso wie mit kupierten Schnäbeln." Ansätze von Kannibalismus habe es gegeben, welche die Landwirte aber schnell wieder im Griff hatten. Inga Garrelfs sagt sogar: "In vielen Projektbetrieben ist es überraschend gut gelaufen." Niedersachsens Agrarminister Christian Meyer berichtet von ähnlichen Ergebnissen.

Die Pilotprojekte kann man auch als Ausflug in die Hühnerpsychologie verstehen. Die Befindlichkeiten des Federviehs rücken in den Fokus. Hennen mit ungekürzten Schnäbeln können eine Gefahr für ihre Artgenossen werden. Landwirt Schönecke vergleicht sie mit einer Gang von Jugendlichen, die mit offenem Messer rumlaufen: "Das kann gut gehen, das kann aber auch böse enden." Man muss vermeiden, dass die Hühner unter Stress geraten, weil Stress Federpicken und Kannibalismus auslösen kann. Der Hühnerhalter von morgen muss aufmerksamer denn je auf seine Tiere achten. "Das Huhn verzeiht keinen Fehler", sagt Inga Garrelfs.

Eier von Hühnern mit intaktem Schnabel müssten um drei Cent teurer werden als andere Eier

Hühner mit Schnabelspitze brauchen ausgewogeneres Futter, damit sie sich wohl fühlen und Ernährungsmängel nicht wettmachen, indem sie die Federn der anderen Hühner auffressen. Sie brauchen Beschäftigung, damit sie sich ablenken können. Anreize zur Nahrungssuche sind dabei wirkungsvoller als Spielzeug. Innovative Betriebe haben ein automatisches Spiralfuttersystem, über das sie bis zu sechs Mal am Tag Maissilage in den Stall rieseln lassen, damit die Hühner etwas haben, nach dem sie suchen und scharren können. Luzerne-Ballen oder Pickblöcke wären andere Möglichkeiten. Die Hühner müssen sich im Stall zurückziehen können, um in Ruhe ihre Eier zu legen, sie brauchen ein gutes Klima, lockeren Streuboden und ein Licht, das sie nicht in Unruhe versetzt. Das Huhn mit Naturschnabel braucht mehr Komfort, und Schönecke gibt zu, dass das gewöhnungsbedürftig ist. "Man muss ja auch sehen, wo wir herkommen", sagt er, "vor einiger Zeit waren die Tiere noch im Käfig, da ging es um das Thema Technik. Jetzt laufen die Tiere rum."

Mehr Tierschutz macht mehr Mühe. "Die Erfahrung ist, dass es Aufwand ist", sagt Minister Meyer. Die Folge spürt der Kunde. Besseres Futter, Material zur Hühner-Bespaßung, mehr Betreuer - das kostet. Die Eier von Hühnern mit intaktem Schnabel müssen um drei Cent teurer werden als andere Eier, sagen die Experten.

Immer noch fürchten Landwirte, dass sie sich die Umstellung nicht leisten können im Wettbewerb mit ausländischen Herstellern, die Discounter mit billiger Ware beliefern. "Zwischen 80 bis 90 Prozent der Hühner weltweit leben immer noch in Käfigen", sagt Inga Garrelfs. Die Wende kommt trotzdem, Österreich hat sie schon geschafft. In Niedersachsen sind Hennen mit gestutztem Schnabel ab 1. Januar 2017 verboten. Minister Meyer sieht sich durch das Pilotprojekt bestätigt. "Mit dem Mehraufwand geht es", sagt er. Erst vor zwei Wochen haben Geflügelwirtschaft und Bundes-Agrarminister Christian Schmidt den Ausstieg aus der Beschneidungsroutine beschlossen. Der Verein für kontrollierte alternative Tierhaltungsformen (KAT), Zertifizierer für Eier-Lieferanten, hat sich schon 2014 dazu bekannt. Längst laufen in Niedersachsen Förderprogramme und Schulungen. Und auch Henner Schönecke zieht seine Schlüsse aus der Erfahrung des vergangenen Jahres. Er hat einen zusätzlichen Mitarbeiter eingestellt für die Betreuung der neuen Legehennen.

© SZ vom 27.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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