Thorsten Schäfer-Gümbel:Er kann alles, außer gewinnen

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Thorsten Schäfer-Gümbel macht als SPD-Spitzenkandidat in Hessen eine überraschend gute Figur. Doch an der Last der Lüge seiner Vorgängerin hat er schwer zu tragen.

C. Hickmann

Am Rednerpult steht eine Frau aus der Vergangenheit, sie wünscht einen schönen guten Morgen, außerdem ein gutes neues Jahr, begrüßt den Bezirksvorsitzenden Nord, den Bezirksvorsitzenden Süd, begrüßt diesen Parteifreund und jenen Gast sowie eine Delegation aus Peking. Zehn Minuten redet sie, nur den Mann der Gegenwart, der Stunde, der nächsten Tage, erwähnt sie nicht.

Thorsten Schäfer-Gümbel gab sich beim Wahlkampfauftakt kämpferisch. (Foto: Foto: AP)

Andrea Ypsilanti, Vorsitzende der Hessen-SPD und ehemalige Spitzenkandidatin, wirkt an diesem Morgen noch ein wenig schmaler, gebeugter als zuletzt. Sie bringt es in der Gießener Kongresshalle fertig, die Begrüßungsrede beim Neujahrsempfang ihrer Partei zu halten, ohne den Namen ihres Nachfolgers in den Mund zu nehmen. Den des Spitzenkandidaten. Zwei Wochen vor der Neuwahl.

Man darf also zusammenfassen, dass Thorsten Schäfer-Gümbel, 39, Politikwissenschaftler, verheiratet, drei Kinder, nicht nur die Hypotheken eines für die Sozialdemokratie denkwürdig desaströsen Jahres durch einen streckenweise improvisierten Wahlkampf schleppt.

Vor zwei Monaten war dieser Mann auch noch vollkommen unbekannt. Nun kämpft er bei der Wahl am 18. Januar gegen einen Ministerpräsidenten, der bislang keine Fehler macht, dafür aber in der Wirtschaftskrise sein Thema gefunden hat. Zu allem Überfluss hat er auch noch eine Landesvorsitzende neben oder über sich, die offensichtlich ihre neue Rolle noch nicht verstanden hat, außerdem einen Generalsekretär, der vor kurzem per Interview verkündet hat, nach der Wahl seinen Posten abzugeben. Man kommt in diesen Januartagen nicht umhin, Thorsten Schäfer-Gümbel ein wenig zu bewundern. Weil er einfach weitermacht. Und das beileibe nicht schlecht.

Auch an diesem Sonntagmorgen in Gießen nicht, eine knappe Dreiviertelstunde redet er, klar, frei, pointiert, über Bildungspolitik, die Wirtschaftskrise, Infrastruktur. Es ist ein solider Auftritt, keiner, der begeistert, was vor allem daran liegt, dass es das eine große Thema nicht gibt, mit dem er punkten könnte. Immer wieder attackiert er Roland Koch, den geschäftsführenden CDU-Ministerpräsidenten, bloß dürften nicht allzu viele im Saal daran glauben, Kochs endgültige politische Auferstehung noch verhindern zu können. Am Ende ruft Schäfer-Gümbel: "Die Zeit ist reif, Hessen wählt neu, herzlichen Dank!", und sie halten ihre Schilder hoch: "Alle für TSG!"

Es war ein Samstag, fünf Tage nachdem vier SPD-Landtagsabgeordnete Andrea Ypsilanti endgültig zum Scheitern gebracht hatten, als die Republik von der Existenz des Thorsten Schäfer-Gümbel erfuhr. Der SPD-Parteirat nominierte ihn in Frankfurt als Spitzenkandidaten für die Landtagswahl, und als der Name vor der Sitzung die Runde machte, waren nur wenige Teilnehmer nicht perplex.

Am Tag zuvor hatte eine sehr kleine Runde um Ypsilanti zusammengesessen, und auch dort war der Name Schäfer-Gümbel bei weitem nicht der erste, der fiel. Weil er zwar kein Hinterbänkler war, aber doch ein Wasserträger, den sie nicht zu den rot-grünen Koalitionsverhandlungen mitgenommen hatten und dessen Traum, im Falle des Regierungswechsels Fraktionschef zu werden, sich nicht erfüllt hätte. Nun aber hatte die Nominierung ihre Logik, sie stand zum einen für einen Generationswechsel, zum anderen blieb die Spitzenposition in Ypsilantis Lager.

Was folgte, waren Diskurse über seine Brille und seinen Namen, außerdem ein Besuch in der Hauptstadt. Man hatte danach den Eindruck, Beobachter wie Parteifreunde hätten eine Art Waldschrat erwartet, für den es eine beachtliche Leistung wäre, Subjekt, Prädikat, Objekt aneinanderzureihen. Das politische Berlin war überrascht, positiv: Der Mann kann reden! Analysieren. Überzeugen.

Eine seiner entscheidenden Fähigkeiten kann man an einem Winternachmittag im Dienstzimmer des Bürgermeisters von Dieburg beobachten. Thorsten Schäfer-Gümbel hat schon ein paar Termine hinter sich, und der Bürgermeister ist offensichtlich ein Mann, der gerne redet.

Er redet über die Tracht, in der er später auf den Glückstalermarkt gehen wird; er redet über Probleme mit der örtlichen Fachhochschule, bevor er auf ein Thema zu sprechen kommt, das ihm noch mehr am Herzen liegt. Er will seine Stadt zur fahrradfreundlichsten in ganz Hessen machen, doch bevor das Wort Fahrrad erstmals fällt, dauert es recht lang.

Schäfer-Gümbel sitzt ihm gegenüber, schaut ihn an, den Zeigefinger hinters Ohr gelegt. Nach einer Weile fragt er: "Wann gehen Sie in die Umsetzung?" Man muss sich nicht einmal Ypsilanti in dieser Situation vorstellen; es gibt sehr viele Politiker, deren Ungeduld sich spätestens jetzt in ihren Augen bemerkbar machen würde. Mal hierhin, mal dorthin würden sie blicken, weil Augen sich nur schwierig kontrollieren lassen. Schäfer-Gümbel tut das nicht, er gibt vielmehr einem Mann, der nicht einmal in seiner Partei ist, das Gefühl, er interessiere sich für den Dieburger Stadtleitbildprozess. Indem er zuhört.

Das tut er auch innerhalb der Partei; in dieser so tief gespaltenen Hessen-SPD ist er einer der wenigen, die regelmäßig das Gespräch mit der anderen Seite suchen. Typische Schäfer-Gümbel-Telefonate beginnen mit Sätzen wie: Wie siehst du die Lage? Das kann auch aufgesetzt wirken, doch er hält sich viel darauf zugute, dass er "integriere". Kurz nach seiner Nominierung sprach ihn ein Journalist darauf an, nannte ihn dabei aber versehentlich einen "Intrigator", was Gelächter nach sich zog und als Attribut nicht zutrifft. Ganz so harmlos aber, wie es das Jungengesicht des Thorsten Schäfer-Gümbel vermuten lässt, ist er dann auch wieder nicht.

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Er kalkuliert genau, warum er mit wem spricht, was nicht verwerflich ist, sondern klug. Hinzu aber kommt, dass er eine Unerbittlichkeit in sich trägt, die erschrecken kann, wenn sie ausbricht. Das ist seltener geworden, bis vor einiger Zeit gehörte er etwa auf Bezirksparteitagen stets zu den schärfsten Einpeitschern. Als sich dann Dagmar Metzger im März vergangenen Jahres geweigert hatte, Ypsilanti zu wählen, hielt Schäfer-Gümbel am nächsten Tag im Parteirat eine derart scharfe und zugleich aufrüttelnde Rede, dass mancher eine Gänsehaut bekam.

Auch beim berüchtigten Hanauer Parteitag kurz danach, als mit jenen abgerechnet wurde, die eine große Koalition nicht ausschließen wollten, gehörte er zu den Scharfmachern - um hinterher ruhig zu erklären, dass es nicht um die große Koalition gegangen sei. Sondern um die Klärung der innerparteilichen Machtverhältnisse.

Das Spiel auf dieser Ebene beherrscht er perfekt, doch so hart er nach außen agieren kann, so loyal verhält er sich zu seiner Gruppe, dem linken Parteiflügel. Nie wäre er auf die Idee gekommen, öffentlich aufzubegehren, als Ypsilanti ihn kurz vor dem Beinahe-Regierungswechsel nicht an die Fleischtöpfe ließ. Nach seinem Aufstieg blieb sie Landesvorsitzende und Chefin der Landtagsfraktion. Er ist Kandidat, mehr nicht.

Er emanzipierte sich nur vorsichtig, etwa indem er die Kehrtwende in Sachen Linkspartei "Wortbruch" nannte, was Ypsilanti stets von sich gewiesen hatte. Als er seine Aussage per Internet-Video wiederholte, verlangte Ypsilanti intern, er solle das Video aus dem Netz nehmen. Er tat es nicht, und er setzt auch andere Themen als sie, redet weniger über die Energiewende, die Ypsilanti stets wie eine Heilsbotschaft angekündigt hatte, dafür mehr über Wirtschaftspolitik. Das hat aber auch viel mit der Krise zu tun.

Weiter gingen die Absetzbewegungen nicht, was mehrere Gründe hat. Erstens ist er trotz der Fähigkeit zur Härte niemand, der brutal Leute aus dem Weg räumt, zweitens wäre er Gefahr gelaufen, die Unterstützung seines eigenen Lagers zu verlieren.

Drittens aber verhält er sich Ypsilanti gegenüber auch deshalb so loyal, weil diese Gruppe, weil die Partei ihm immer schon mehr gegeben hat als den meisten anderen. Die Partei hat ihm seine Karriere ermöglicht, er stieg vom Referenten des Gießener Sozial- und Jugenddezernenten im Jahr 2003 zum Landtagsabgeordneten und nun zum Spitzenkandidaten auf. Sie war zudem eine Art zweite Familie.

Es ist ein Wahlkampftag in Wiesbaden, Schäfer-Gümbel hat ein Pflegeheim der Arbeiterwohlfahrt besucht, läuft zur nächsten Station und erzählt dabei nochmals in groben Zügen jene Geschichte, die auch in seinen Reden anklingt: Wie er trotz guter Leistungen zunächst nicht auf den Gymnasialzweig geschickt wurde, sondern zur Realschule, "weil ich auf der falschen Seite der Bahnlinie groß geworden bin", in der Gießener Nordstadt, wo die lebten, die nichts zu gewinnen hatten.

Vor allem die Mutter sei skeptisch gewesen, erzählt er heute, doch ein Lehrer habe sich für ihn eingesetzt. Er wechselte, machte Abitur, studierte - und den Geschwistern blieb der Weg verwehrt. "Dann musst du das auch durchziehen", hätten die Eltern gesagt, weil klar war, dass nur für einen das Geld reichte.

Er erzählt dann weiter, allerdings nur noch auf Nachfragen, weil hinter der Geschichte mehr steckt als Aufsteigerromantik. Es geht in dieser Geschichte auch um schwere Krankheiten, erst die des Vaters, Zeitsoldat und später Lkw-Fahrer, dann die der Mutter.

Es geht um einen Jungen, der gezwungen war, sehr früh erwachsen zu werden und der sich später auf der Universität und in der Partei viele Dinge erst aneignen musste, Selbstbewusstsein und jene Art, sich in der Gesellschaft zu bewegen, die für andere schon vom Elternhaus her selbstverständlich war.

In der Partei bekam er Bestätigung, weshalb es ihm an Selbstbewusstsein heute nicht mehr mangelt. Noch immer aber prägt ihn eine Ernsthaftigkeit, die viele in seinem Alter nicht haben. Im vergangenen Jahr etwa, beim Sommerfest des Flughafenbetreibers Fraport, saßen die Landespolitiker seiner Generation an den Tischen, tranken hier ein Glas und da noch eins.

Schäfer-Gümbel saß mit seiner Frau und den Kindern am Rand, er wirkte wie einer, der sich in die Amüsiergesellschaft verirrt hatte. Man spürt diese Ernsthaftigkeit auch in seiner Sprache; er hat, wenn er über Politik spricht, einen Hang zum Pathos, zur Melodramatik. Er beginnt Sätze gern mit Floskeln wie "Ich sage Ihnen ganz klar" oder "Ich bekenne mich ausdrücklich dazu". Er kann allerdings auch bestens über sich selbst lachen.

Thorsten Schäfer-Gümbel trägt seine Herkunft nicht wie eine Monstranz vor sich her, es wirkt authentisch, wenn er aus ihr seine Motivation ableitet, Politik zu machen. Weil er weiß, wovon er spricht, wenn er Chancengleichheit fordert - weil er weiß, wie viel Fleiß und Ehrgeiz es braucht, sich nach oben zu kämpfen. Sein Fleiß und sein Ehrgeiz zusammen ergeben aber auch eine Schwäche.

Politik hat bei ihm bislang so funktioniert: Er entdeckte ein Thema, begeisterte sich, arbeitete sich ein, trieb es voran, entdeckte währenddessen aber schon wieder das nächste, was dazu führte, dass er sich irgendwann verzettelte und überall ein bisschen, in kaum einem Thema aber als echter Experte zu Hause war.

In Frankfurt, im Saalbau Bornheim, soll es an diesem Nachmittag um eine Internationale Bauausstellung für das Rhein-Main-Gebiet gehen. Der Bundesverkehrsminister wird kommen, der Saal ist klein, dafür gefüllt, mit mittelalten bis alten Menschen. Keine zwei Wochen mehr sind es an diesem Tag bis zur Wahl, es ist ein Spezialistenthema, keines, mit dem man die Massen begeistert, Schäfer-Gümbel kann sich sehr darüber ärgern, dass auch die Medien es häufig ignorieren. Hier aber hat er Zuhörer.

Er spricht in seinem Referat von einem "Entwicklungspfad" für die Rhein-Main-Region, er sagt, dass die Internationale Bauausstellung ein "Instrument" dieses Entwicklungspfades sein könne. Es sind sperrige Sätze zu einem sperrigen Thema, das man besser beiseite lässt, wenn man schnell bekannt werden muss. Wenn aber Thorsten Schäfer-Gümbel ein Thema entdeckt hat, dann werden solche Kategorien zweitrangig. Dann muss das Thema sein, jetzt und hier.

Es ist die vorletzte Veranstaltung des Tages, ein paar Stunden später fährt der Wahlkampfbus zurück nach Wiesbaden. In der ersten Reihe sitzt ein Kandidat, der kein griffiges Thema hat und deshalb auf Großplakaten hilflos fragen lässt: "Wirklich wieder Koch?" Der auf dieser Ebene noch nie mitgespielt hat, der einer klaren, wenn nicht gar historischen Niederlage ins Auge sehen muss; drei Tage nach dieser Fahrt wird die neueste Umfrage erscheinen, nach der die CDU bei 42 Prozent liegt und gemeinsam mit der FDP auf 55 Prozent kommt - während die SPD bei 24 Prozent liegt.

Thorsten Schäfer-Gümbel weiß, dass er sein Ziel, nach einer Niederlage Landes- und Fraktionsvorsitzender zu werden, nur erreichen kann, wenn das Ergebnis nicht zu verheerend wird. Doch dort vorne in den ersten Reihen machen sie Witze, sie lachen, nicht aufgesetzt, sondern ausgelassen, der Pressesprecher, die Referentin, der Kandidat, sie lachen bis Wiesbaden. Für die Partei mag es düster aussehen, aber für ihn, den Kandidaten, hat das große Spiel ja erst begonnen. Und die Aussichten, dass es weitergeht, sind beileibe nicht schlecht.

© SZ vom 10.1.2009/bosw - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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