Thomas de Maizière:Ein Solo zu viel

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Was der Minister mit seinem Vorpreschen in Sachen Syrien-Flüchtlinge öffentlich gemacht hat, ist auch den Spitzen der Regierung längst bekannt - allerdings nur als Krisenszenario.

Von Stefan Braun und Christoph Hickmann

Anfang vergangener Woche war in Berlin eine österreichische Delegation zu Gast. Unter Leitung ihres Fraktionschefs Reinhold Lopatka waren Nationalratsabgeordnete der bürgerlichen ÖVP an die Spree gereist, um mit Vertretern des Kanzleramts, des Bundesinnenministeriums und der Spitze der Unionsfraktion über die Flüchtlingskrise zu reden. Nun ist die Visite als solche keine Geschichte wert. Dafür ist sie angesichts der Größe der Krise schlicht alltäglich. Der Eindruck aber, den die Besucher mitnahmen, lässt aufhorchen. Unisono berichteten die Österreicher, dass es eine ungeahnte Kluft gebe zwischen dem Kanzleramt und dem Bundesinnenministerium. Während das Ministerium streng und kritisch und ablehnend gegenüber dem Zuzug Hunderttausender Flüchtlinge gewirkt habe, sei das Kanzleramt "ganz anders und viel offener aufgetreten", wie es einer der Gäste ausdrückt.

Die Gäste haben ein gutes Gespür bewiesen. Seit Wochen wächst der Graben zwischen dem Ministerium und der Regierungszentrale. Das gilt vor allem für die Frage, ob man über Begrenzungen des Zuzugs nachdenken müsste. Diesen Konflikt muss kennen, wer verstehen will, warum es an diesem Freitag zum großen Clash kam. Einem Freitag, an dem Innenminister Thomas de Maizière zunächst erklärte, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) künftig Syrern nur noch den so genannten subsidiären Schutz gewähren solle ( siehe Artikel rechts) - und einem Freitag, an dem sich der Minister wie noch nie selbst dementieren musste. Kaum zurück von einer Auslandsreise, erklärte er auf Druck des Kanzleramts, alles bleibe beim Alten. Wollte da einer alleine gegen die Flüchtlingspolitik seiner Kanzlerin revoltieren? Ist de Maizière mit Anfang sechzig ein Revoluzzer geworden?

Im Kanzleramt heißt es, man verstehe nicht, was den Minister geritten habe

Auch zwei Tage nach dem einmaligen Vorgang lässt sich das nicht mit letzter Gewissheit sagen. Im Kanzleramt heißt es noch immer, man verstehe nicht, was den Minister geritten habe. Und im Ministerium ist man "überrascht", wie das Kanzleramt nun den Eindruck erwecke, der Gedanke sei quasi aus dem Nichts in die öffentliche Debatte geraten. Weder hier wie dort wollen sich Vertreter öffentlich äußern. Aber in ihrem Erstaunen übereinander schenken sich beide Seiten am Sonntag wenig. Und das muss verwundern in einer Situation, in der die Krise nichts so sehr verlangt wie Kooperation und Abstimmung.

Sicher ist deshalb nur, dass der Minister am vergangenen Dienstag das Bamf im Alleingang anweisen ließ, es möge die Syrer nicht mehr pauschal wie Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention behandeln. Im November 2014 war genau das noch beschlossen worden, um die Aufnahme der Syrer zu beschleunigen und die Kapazitäten des Amts für alle anderen Asylverfahren frei zu machen. Doch weil seit Wochen vor allem in der Unionsfraktion und in der CSU der Ruf laut wurde, man möge angesichts der vielen Syrer an die Folgen denken und den Automatismus beenden, entschied sich der Minister, Fakten zu schaffen. Weisungen an das Bamf sind seine Aufgabe. Wenn er nicht will, muss er vorher niemanden fragen.

Trotzdem hätte er das besser getan. Zumal in dieser Woche in der Koalition nicht nur über Transitzonen, sondern auch über Beschränkungen beim "subsidiären Schutz" gesprochen wurde. Das geschah in den klassischen Arbeitsrunden zwischen dem Kanzleramt und den Ministerien. Aber es geschah auch beim Spitzentreffen der drei Parteichefs am Donnerstag. Kanzlerin Angela Merkel, SPD-Chef Sigmar Gabriel und CSU-Chef Horst Seehofer sprachen über Beschränkungen beim Familiennachzug. Und die Koalitionsspitzen redeten darüber, wie es sich auswirken würde, sollte man das auch auf Syrer übertragen. Allerdings endeten die Überlegungen mit der Ansage, dass es wenn überhaupt nur im äußersten Notfall in Frage käme - und man darüber noch mal sprechen müsse.

Ein heikler Schluss war das, weil er zwei Interpretationen zulässt. Der eine kann ihn als Ansage lesen, dass man, bevor man das Thema überhaupt anrührt, noch mal sehr ausführlich drüber redet. Der andere kann ihn als Botschaft interpretieren, dass dieses Thema das nächste sein wird, über das man sprechen werde. "Es hängt davon ab, wo bei einem das Herz schlägt", sagt einer, der bei den vielen Gesprächen dabei war. "Wenn einem das Herz sagt, dass das nur die allerletzte Lösung sein kann, will man die Debatte so lange wie möglich rausschieben. Wenn man Wege zur schnellen Begrenzung sucht, sieht man darin sofort das nächste Thema."

De Maizière hatte wohl das Gefühl, er rühre an etwas, über das alle nachdenken

Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass de Maizières Erklärung vom Freitag bei der SPD und auch beim Kanzleramt helle Aufregung auslöste. Plötzlich geriet eine Frage ins Zentrum der Debatte, die man nach dem befriedenden Koalitionsgipfel auf keinen Fall anrühren wollte. Nicht im Kanzleramt, nicht bei den Sozialdemokraten. Deshalb das entsetzte Kopfschütteln - und der Druck auf Maizière, sich sofort selbst zu dementieren. Dass der Minister gleichwohl das Gefühl hatte, er rühre etwas an, über das alle schon nachdenken, ist so falsch nicht. Das wollte nur keiner öffentlich mehr aussprechen.

Für die Sozialdemokraten ist der Verlauf der Debatte besonders schwierig. Zwar fielen sie in Person etwa von Parteivize Ralf Stegner erst einmal ordentlich über de Maizière her. Aber sie wissen genau, dass die Debatte kommen wird. So soll am Donnerstag beim internen Treffen der SPD-Ministerpräsidenten die Frage diskutiert worden sein, was passiert, wenn man kein Abkommen mit der Türkei hinbekommt und die Zahl der Flüchtlinge nicht sinkt. Dabei soll es auch um das Thema des subsidiären Schutzes gegangen sein, allerdings nicht als akutes Vorhaben, sondern für den Fall, dass alles andere schiefgeht. Entsprechend differenziert blickt Burkhard Lischka, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, auf das Hin und Her des Innenministers. "Natürlich war uns auch in der SPD klar, dass wir irgendwann darüber debattieren müssen, die Gruppe der lediglich subsidiär Schutzberechtigten zu erweitern", sagt er. "Aber ausgerechnet mit der Gruppe der Syrer zu beginnen, die aus einem Bürgerkriegsland kommen, halte ich für den denkbar schlechtesten Weg und auch für rechtlich angreifbar." Davon abgesehen, sei er offen für eine Diskussion darüber, wie man den Kreis der subsidiär Schutzberechtigten in den nächsten Monaten erweitern könne. Denn ein "ungebremster Familiennachzug" sei "nicht machbar".

Kluft zum Kanzleramt: Innenminister Thomas de Maizière auf dem Weg in die Regierungszentrale in Berlin. (Foto: Fabrizio Bensch/Reuters)
© SZ vom 09.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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