Terror:Tote, fast jeden Tag

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Die Anschläge haben das Land verändert: eine Mutter, deren Sohn durch eine Bombe in Ankara getötet wurde. (Foto: Ozan Kose/AFP)

Warum es der Türkei so schwerfällt die Anti-Terror-Gesetze zu ändern, auch wenn ihre Bürger dafür schon bald visafrei Reisen dürften.

Von Mike Szymanski

In der Türkei gibt es eigentlich keinen Tag mehr ohne Terror. Als sich die alleinregierende islamisch-konservative AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan am Sonntag zum Parteitag in Ankara versammelte, um einen neuen Chef zu wählen, ploppte während des Treffens die Eilmeldung eines türkischen Fernsehsenders auf. Wieder war im Südosten des Landes ein Soldat im Kampf gegen die terroristische Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) ums Leben gekommen. Eine Woche zuvor hatte sich Armeechef Hulusi Akar rechtfertigen müssen, weil er als Gast auf der pompösen Hochzeit von Staatspräsident Erdoğans Tochter war. Die Empörung war groß: Wie konnte er sich nur vergnügen in diesen blutigen Tagen? Normalerweise lässt sich das Militär nicht so schnell aus der Ruhe bringen, aber dieses Mal erklärte es, dass der Generalstabschef vor der Hochzeit auf einer Trauerfeier war.

Wer verstehen will, warum der Streit über die türkischen Anti-Terror-Gesetze zwischen Ankara und der Europäischen Union so festgefahren ist, warum die Opposition bereitwillig der AKP dabei hilft, Abgeordneten der pro-kurdischen Partei HDP die Immunität zu entziehen, selbst wenn sie dadurch ihre eigene verlieren, der darf die türkische Terror-Angst nicht ausblenden. Während in europäischen Hauptstädten das Leben mit dem Terror den Ausnahmefall darstellt, ist das in der Türkei umgekehrt. In den vergangenen Jahrzehnten waren die Zeiten des Friedens kürzer als die des Blutvergießens.

Die PKK hat den Konflikt in die Großstädte getragen

Seit dem vergangenen Sommer sind schon wieder mehr als 500 Sicherheitskräfte und Tausende PKK-Kämpfer ums Leben gekommen. Bei mehr als einem halben Dutzend Terroranschlägen - verübt einerseits vom sogenannten Islamischen Staat, andererseits von PKK-Anhängern - sind in weniger als einem Jahr 200 Zivilisten gestorben. Allein die Hauptstadt Ankara wurde von drei Anschlägen erschüttert, zwei davon mit zusammen mehr als 60 Toten werden der PKK zugeschrieben.

Eigentlich sollte Frieden in der Türkei einkehren. Das war die Hoffnung, als im vergangenen Sommer die pro-kurdische Partei HDP ins Parlament einzog. Verhandeln statt Vergeltung üben. HDP-Chef Selahattin Demirtaş schien der Friedensbringer zu sein. Aber dann hat die PKK auch diese Partei mit ihrem Zerstörungsrausch erfasst. Nachdem in Ankara eine Bombe der Freiheitsfalken Kurdistans, einer militanten Splittergruppe der PKK, hochging, sprach eine HDP-Abgeordnete den Hinterbliebene eines Attentäters ihr Beileid aus. Als neulich nahe Diyarbakır ein Sprengsatz ein Dutzend Bauern tötete, dauerte es Tage, bis sich die HDP von der Gewalt distanzierte. Die Gräben, die PKK-Anhänger im Südosten des Landes errichten: immer nur reiner Selbstschutz. Aus europäischer Sicht hat man eher die heldenhaften kurdischen Waffenbrüder in Syrien im Kopf, die sich gegen den IS stellen. In der Türkei zählt man die Anschlagstoten.

In genau diesen Zeiten verlangt die EU von der Türkei, die Terrordefinition in ihren Gesetzen enger zu fassen. Aber Erdoğan weigert sich nachzugeben. Er sagte vor einigen Tagen an die Europäer gerichtet: "Die Bomben, die in der Türkei explodieren, mögen euch nichts bedeuten. Aber wenn sie in euren Städten explodieren, dann werdet ihr verstehen, was wir dabei fühlen." So kraftstrotzend der Präsident gerne auftritt, beim Thema Terror-Gesetze agiert er aus einer Position der Schwäche. Innenpolitisch hat er kaum Spielraum, den Europäern nachzugeben - dafür ist die Angst im Land zu groß. Die PKK hat den Kampf aus den Bergen im Südosten des Landes längst in die großen Städte im Westen der Türkei getragen. In einer Umfrage vor einiger Zeit sprachen sich nur etwa 30 Prozent der Befragten für eine politische Lösung aus.

© SZ vom 24.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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