Stimmung:Streit im Wahllokal, Streit im Bus

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Athen am Tag des Referendums: Die Menschen debattieren bis zum Schluss, und manche sorgen sich bereits um die Einheit des Landes.

Von Mike Szymanski

In der Athener Grundschule, in der Alexis Tsipras jetzt auftritt, wird sonst ein anderer bewundert: der kleine Prinz. Ein Bild des Blondschopfs, der Hauptfigur aus der Erzählung von Antoine de Saint-Exupéry, schmückt das ansonsten trostlose Treppenhaus mit Neonröhren und blätterndem Putz. Vom kleinen Prinzen kann man viel lernen, nicht nur als Schüler. An einer Stelle sagt das Kerlchen: "Geradeaus kann man nicht sehr weit gehen." Seine Welt ist einfach zu klein.

Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras und die von seiner Linkspartei Syriza geführte Regierung waren fünf Monate unterwegs, bis sie hier angekommen sind: Es ist Sonntag, die Griechen stimmen in einem Referendum über ihre Zukunft ab. Eine Zukunft mit oder ohne Euro. In letzter Konsequenz womöglich eine Zukunft in der EU oder außerhalb. Darum geht es. Deshalb ist das Land so aufgewühlt, auch wenn die Ausgangsfrage des Volksentscheides bedeutend harmloser daherkommt: Sind die hoch verschuldeten Griechen bereit, weitere Sparauflagen der europäischen Kreditgeber zu akzeptieren?

Es ist kurz nach 19 Uhr in Athen, die Prognosen liegen vor, und jetzt liegt das Nein-Lager hauchdünn vorne. Was wird nun aus dem Euro, was wird nun aus dem Land?

Tsipras hatte am Nachmittag in der Grundschule im Stadtteil Kypseli im Norden des Stadtzentrums abgestimmt. Er lebt nur ein paar Straßen weiter. Kypseli ist eine einfache Wohngegend mit schönen und weniger schönen Ecken. Tsipras lebt in einer der schönen, mit viel Grün an den Balkonen.

Sein Kreuz macht er wohl bei "Ochi", dem Nein zu den Sparplänen der Kreditgeber. Tsipras sagte: "Das Volk wird heute nicht nur die Botschaft senden, dass es in Europa bleibt, sondern auch, dass es in Würde leben will."

Würde - das ist Tsipras' Lieblingswort. Seit Tagen schon benutzt er es.

Tsipras war im Januar mit dem Versprechen an die Macht gekommen, die Sparpolitik in seinem Land nach fünf Jahren zu beenden. Und damit marschierte er in die Verhandlungen mit den Kreditgebern. Aber auch die blieben hart, und sie bestehen auf schmerzhaften Reformen. Als es für Tsipras nicht mehr weiterging, hat er dieses Referendum angesetzt. Um 19 Uhr schlossen die Wahllokale.

Die Nein-Sager waren laut.

Am Freitagabend versammelten sich auf dem Syntagma-Platz vor dem Parlament etwa 25 000. Auf den Plakaten, die sie mitgebracht hatten, war die Stimmung ganz gut abzulesen. "Germoney. Europa. Nein Danke" - hatte einer der Demonstranten auf ein großes Schild geschrieben. Ein anderer hielt dieses Plakat hoch: "Schäuble - fahr' zur Hölle."

"Ochi" steht auf einer Wand, das griechische Wort für "Nein". Aber so übersetzt der Passant es nicht

Athen am Tag der Abstimmung. Es ist noch früh, viele Touristen sitzen beim Frühstück. Mitten auf dem Syntagma schläft ein Obdachloser. Sein Oberkörper ist nackt. Ein anderer döst im Eingang einer Bank. die wie alle Kreditinstitute im Land seit einer Woche schon geschlossen ist. An die Wand hat jemand mit schwarzer Farbe "Ochi" geschmiert. Makis Tzafaris kann Deutsch, er übersetzt das Wort nicht mit "Nein", sondern macht ein "Nein, Frau Merkel" daraus. Er gehört zu den Tsipras-Anhängern, die tagelang in provisorischen Buden auf dem Syntagma Wahlkampf gegen die Sparpolitik gemacht haben.

Tsipras' Referendum spaltet das Land, bis in die Familien: Maraslion ist eine der besten Schulen von Athen. Sie liegt im feinen Stadtteil Kolonaki, der auch schon bessere Zeiten erlebt hat. Ein Vater kommt am Nachmittag mit seiner Tochter aus dem Wahllokal. Sie trägt einen weißen Pudel auf dem Arm, er eine schicke Uhr am Handgelenk. Sie hat für den Kurs der Regierung gestimmt, der Vater dagegen. Europa ohne Griechenland - das kann er sich nicht vorstellen. "Alternativlos", sagt er, obwohl er auch genug von der Sparpolitik hat. Die Tochter will "kein Weiter so".

Auch für die Tsipras-Gegner geht es um Würde. Dimitra Charitidou findet es würdelos, wie die politische Spitze des Landes mit den Kreditgebern umgeht. "Ich entschuldige mich für diese Regierung", sagt sie. Natürlich müssen wir unsere Schulden zurückbezahlen. Im Moment sei "niemand happy", jeder leide, aber sie "liebe die EU".

Worum geht es so vielen Bürgern, und zwar aus beiden Lagern? Um die "Würde"

Schon lange wurde in diesem Land nicht mehr so heftig über Politik diskutiert wie in diesen Tagen. Sogar im Bus kommt es zum Streit, wie eine junge Athenerin berichtet. Ausgelöst hatte ihn ein Fahrgast, der sich über einen geschlossenen Supermarkt aufregte und sagte, dies sei nur der Anfang, wenn die Nein-Sager nun recht bekämen. Daraufhin meldeten sich jene zu Wort, die meinen, mit einem Ja zur Sparpolitik werde alles nur noch schlimmer. Eine Rentnerin ging dazwischen: Die Jungen hätten doch keine Ahnung. Wer die Vergangenheit erlebt habe, könne doch nicht die Zukunft in der EU aufs Spiel setzen. Worauf die Jungen entgegneten, es seien doch die Alten gewesen, die jahrzehntelang die falschen Politiker gewählt hätten.

Die konservative griechische Tageszeitung Kathimerini sorgt sich um den Zusammenhalt im Land: "Wie auch immer die Wahl ausgeht, wir müssen auch am Montag alle im selben Land leben. Lasst uns das nicht vergessen", heißt es in einem Kommentar in deren Wochenendausgabe.

Wer sich in den vergangenen Wochen in Athen umgehört hat, bekam immer wieder zu hören, der Streit mit den Geldgebern sei ein großes Spiel, eine ganz große Zockerei, bei der es um Milliarden und nicht mehr um die Menschen gehe. Aber diese Zockerei hier ist selbst richtigen Profis zu heiß. Aris, 64 Jahre alt, dürfte davon etwas verstehen. Er steht an diesem Sonntag vor einem Wettbüro. Viele Griechen lieben es, ihr Glück herauszufordern. Die kleinen Geschäfte haben Konjunktur, während andere Läden mangels Kundschaft schließen müssen. Im Lotto-Jackpot liegen 4,5 Millionen Euro. Wer will, kann aber auch bei Pferde- und Hunderennen wetten. Drinnen sitzen ein paar Männer und studieren Statistiken.

Die Krise - auch ein ganz großes Spiel? Aris, regelmäßig Kunde hier, sagt: "Wenn, dann ist das ein Kriegsspiel." Ein anderer Mann tritt ins Geschäft. Fußball, Pferde, Lotto - alles interessiert ihn, aber auf die Politik setzen? Nichts für ihn. "Zu riskant", im Moment, sagt er.

© SZ vom 06.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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