Selbstmorde in Stammheim:Aktenzeichen RAF ungelöst

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Das Rätselraten geht weiter: Auch die jetzt freigegebenen Dokumente lassen offen, ob die Stammheimer Justiz die Planung der Selbstmorde belauscht hat.

Bernd Dörries

Drei Jahrzehnte waren die Akten unter Verschluss, lagen als Sperrsache im Archiv des Stuttgarter Justizministeriums. Fünf Regalmeter zur RAF: Anklagen, Aussagen und der Schriftverkehr von Politik und den Ermittlern. Und als die 30 Jahre vorüber waren, die Frist zur Geheimhaltung abgelaufen war und die Aufzeichnungen eigentlich aus dem Keller kommen sollten, gab es ein Problem.

Die Zellenfenster der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim waren innen und außen mit Gittern gesichert. In solchen Zellen im Hochsicherheitstrakt der JVA waren vor mehr als 30 Jahren die RAF-Mitglieder Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe inhaftiert. (Foto: Foto: ddp)

Das Problem waren nicht die plötzlichen Bedenken eines Ministers, sondern es war das Stuttgarter Weindorf mit seinen Buden direkt vor dem Justizministerium in der Stuttgarter Innenstadt. Kein Lieferwagen konnte dort vorfahren und die Akten abholen.

Am Wochenende machte das Weindorf zu, und seit diesem Dienstag liegen die Akten im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv und können dort nach einem Antrag eingesehen werden. Es ist die größte bisher freigegebene Menge an Dokumenten zur bleiernen Zeit. Es ist die damalige Sicht des Staates.

Oder das, was er als seine Sichtweise verewigt sehen wollte. Man weiß ja nicht, was bewusst nicht in die Akten kam. Was an mündlichem Wissen, wie die Archivare es nennen, alles vorhanden war. Vieles ist auch einfach nur banal.

Leib und Leben in Gefahr

In einem ganzen Ordner hat das Stuttgarter Justizministerium Briefe der Bürger gesammelt. Viele haben sich Sorgen gemacht. Nicht nur wegen der Gefahren für Leib und Leben in Zeiten der RAF, sondern auch darüber, wer das alles bezahlen soll, den ganzen Prozess in Stammheim und die Sicherheitsmaßnahmen.

Frau B. aus Schönaich schreibt im Jahr 1974 an den Justizminister, dass der normale Bürger doch schon "genug zur Kasse gebeten werde". Nun habe sie von den Millionenkosten für das Verfahren in Stammheim gelesen und mache einen Vorschlag: Die Regierung solle Studenten die Beihilfe streichen, "wenn diese statt zu studieren, demonstrieren, randalieren, Staats- und Privateigentum zerstören".

Das Justizministerium wies den Vorschlag zurück, versprach aber im Antwortschreiben an Frau B., dass sich die Kosten für die Aburteilung der Terroristen "in vertretbaren Grenzen" halten würden.

Man kann jetzt natürlich fragen, warum man solche Sachen 30 Jahre lang geheim halten muss. Das interessiert den Archivar aber nicht, ihn interessieren vor allem die Richtlinien.

Meterhoch türmen sich in den Akten die Telexschreiben an die höchsten Stellen der Politik. Die täglichen Lageberichte mit Festnahmen, Schießereien und Toten. Man kann aber nicht nur erkennen, wie die Terroristen aufrüsten, sondern auch wie der Staat dagegenhält, wie auch er in Panik gerät.

"Die Richter drängen darauf, nunmehr möglichst schnell in den Besitz der angeforderten Schusswaffen zu kommen", heißt es in einer internen Notiz des Justizministeriums. Erst wird den an RAF-Verfahren beteiligten Richtern das Tragen von Waffen zugestanden. Dann ihren Fahrern, dann ihren Frauen. Und dann melden sich Richter und Staatsanwälte aus dem ganzen Land und wollen eine Waffe.

Schließlich beantragen auch noch die Pflichtverteidiger von Jan-Carl Raspe einen Waffenschein. Der Staat teilte die Waffen aus, der Staat bewaffnete sich. Das kann man im Stuttgarter Staatsarchiv nachlesen.

Aber der Staat gibt auch bis heute noch nicht alles preis. So ist in den nun freigegebenen Akten nicht das schriftliche Urteil aus dem Stammheimer Prozess gegen Andreas Baader und die anderen enthalten. Und die Akten sagen auch wenig darüber aus, ob in den Zellen von Stuttgart-Stammheim Wanzen installiert waren.

Es ist eine der letzten großen Fragen aus der RAF-Zeit, die letztlich darauf hinausläuft, ob der Staat die Planung der Selbstmorde von Baader, Raspe und Ensslin am 18. Oktober 1977 mithörte. Der Verdacht besteht seit drei Jahrzehnten, und immer mal wieder findet sich ein Indiz: In nun ebenfalls freigegebenen Dokumenten des Innenministeriums ist auch die Handakte des damaligen Chefs des Landeskriminalamtes, Kuno Bux.

In seinem Ordner liegt die Rechnung eines Elektrohandels über zwei Wanzen und ein Grundriss des siebten Stocks der JVA Stammheim, wo Baader und Meinhof saßen. Fünf Zellen sind namentlich gekennzeichnet und mit einem kleinen Kreuz versehen. Steht das Kreuz für eine Wanze?

Unter dem Bauplan ist noch vermerkt, dass "ein Schacht entlang der Innenwand durch alle Zellen verläuft". An zwei Stellen in der Wand sind Öffnungen rot umkringelt. Jeder Kringel eine Wanze? Die Antwort steht nicht in den Akten. "Darüber sollte jedoch in der Öffentlichkeit nichts verlautbart werden", heißt es in den Papieren zu grundsätzlichen Überlegungen, die Gefangenen auszuhorchen.

Dabei ist es bis heute im Wesentlichen geblieben. Diejenigen, die darüber vielleicht mündlich etwas beizutragen haben, dürfen oder wollen nicht sprechen. Im Stuttgarter Innenministerium liegen noch Tausende weitere Akten unter Verschluss.

Abhörvorrichtungen hat es zumindest in zwei Zellen des Prozessgebäudes in Stammheim gegeben, in denen sich die Gefangenen während der Prozesspausen aufhielten. Auch fünf Besucherzellen für Gespräche mit den Anwälten waren verwanzt. Zu drei Zeitpunkten, so viel ist sicher, wurde dort mitgehört: während des Überfalls auf die Deutsche Botschaft in Stockholm 1975, als im Sommer 1976 ein Flugzeug nach Uganda entführt wurde und nach der Festnahme des RAF-Verteidigers Siegfried Haag. Viel mitbekommen haben die Lauscher offenbar nicht.

Bruchstückhaft dokumentiert

Zumindest findet sich in den Akten nur die Abschrift eines Gesprächs zwischen Ulrike Meinhof und ihrem Verteidiger Klaus Croissant. In der Unterhaltung geht es nach Ansicht der Ermittler darum, ob man auch ein Kind entführen könnte, um die RAF-Gefangenen freizubekommen.

Die Unterhaltung ist nur sehr bruchstückhaft dokumentiert. In einer Aktennotiz wird die generell schlechte Tonqualität der Abhöraufnahmen beklagt und darauf hingewiesen, bei künftigen Installationen doch bitte die Technik der "kopfbezogenen Stereophonie" zu berücksichtigen.

Das Abhören wurde schon im März 1977 bekannt, ein Haftrichter am Oberlandesgericht schrieb daraufhin an den baden-württembergischen Justizminister, er verbitte sich jegliche weitere Abhörmaßnahmen, egal warum und von wem. Es ist ein recht forsches Schreiben, das aber "Mit vorzüglichster Hochachtung" endet.

Ob es so kam, ob mit dem Lauschen Schluss war, kann man nicht sicher sagen. In den Akten des Hochbauamtes Stuttgart kann man nachlesen, dass im Jahr 1978 Techniker der Firma Siemens in Stammheim waren, um das Stromnetz zwischen den Zellen so zu gestalten, dass die Gefangenen dort nicht wieder eine interne Kommunikationsanlage basteln konnten, wie es Jan-Carl Raspe geschafft hatte. Dies sei gelungen, schrieben die Techniker damals, man habe die Leitungen geerdet. Funkverkehr sei jedoch weiter möglich.

© SZ vom 12.9.2008/bica - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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