Schweiz:Plötzlich ganz nah

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Im italienischen Como stranden Flüchtlinge zu Hunderten an der Grenze zur Eidgenossenschaft. Menschenrechtler sind alarmiert, über die Zurückweisungen und die Umstände.

Von Charlotte Theile, Zürich

Aus Sicht der Schweiz waren die Bilder der Flüchtlinge an den europäischen Grenzen immer vor allem eines: beruhigend weit weg. Zwar wurde viel über Willkommenskultur, offene Grenzen und mögliche Folgen der deutschen Politik diskutiert, aber im Großen und Ganzen blieb alles Theorie. Knapp 40 000 Menschen stellten 2015 ein Asylgesuch in der Schweiz, eine deutliche Zunahme zwar - aber im Vergleich mit den Bewegungen in den Nachbarländern nicht von Bedeutung. Allein in München kamen an wenigen Tagen im September 2015 so viele Menschen an wie in der Schweiz im ganzen Jahr.

In den vergangenen Wochen hat sich die Distanz der Schweiz zu den Flüchtlingen aber stark verringert. In Como, an der nördlichen Grenze Italiens, neun Kilometer von der Schweiz entfernt, warten Hunderte Menschen darauf, weiterreisen zu können.

Die Zahl der illegalen Grenzübertritte in die Schweiz betrage jeden Tag etwa 200, sagt Attila Lardori von der eidgenössischen Zollverwaltung. "Die meisten Menschen, die wir aufgreifen, wollen weiterreisen nach Norden." Die meisten Flüchtlinge versuchen ihr Glück im Zug - und werden von den Schweizer Grenzwächtern zuverlässig am ersten schweizerischen Bahnhof Chiasso aus den Waggons geholt. Die 700 Kilometer lange Südgrenze dagegen können die Grenzwächter kaum unter Kontrolle behalten. Attila Lardori betont: Wer in der Schweiz Asyl beantragen wolle, könne das nach wie vor tun. Das Schweizer Grenzwachtkorps setze lediglich das Dublin-Abkommen durch, das Recht auf Asyl werde nicht beeinträchtigt.

Ganz anders klingt das in einem Brandbrief, den Flüchtlinge vor einigen Tagen an Bruno Corda geschickt haben, den Präfekten der Provinz Como. Darin ist von Gewalt und Erniedrigungen durch die Schweizer Polizei die Rede. Auch würden Menschen nach Italien zurückgeschafft, die mündlich um Asyl gebeten hätten, außerdem Minderjährige, Schwangere, Kranke. Es gebe keine rechtliche Unterstützung.

Das Schweizer Grenzwachtkorps erklärte in einer Reaktion auf den Brief, man sei sich des "besonderen Umstands von schutzbedürftigen Personen bewusst". Die Kontrollen entsprächen "dem geltenden Recht".

Denise Graf, die für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in Como war, prangert die Zurückweisungen der Minderjährigen ebenfalls an - und berichtet von Pfarrer Giusto Della Valle, in dessen Kirche Hunderte unbegleitete Minderjährige Zuflucht fänden. "Viele andere Menschen übernachten im Park oder bei Privatleuten", sagt Graf. Ohne solche freiwilligen Hilfsaktionen sähe es in Como noch viel schlimmer aus. Den Vorwurf der Flüchtlinge, sie würden weder über ihre Rechte informiert, noch würde ihre Situation geprüft, hält die Aktivistin für "umfassend gerechtfertigt". Bei den Kontrollen im Grenzgebiet war Graf nie dabei. Soweit sie aber die Schweizer Grenzwächter am Bahnhof Chiasso beobachtet habe, hätten sich diese "korrekt verhalten". Graf berichtet auch, dass die italienischen Behörden die Flüchtlinge immer wieder in den Süden Italiens bringen. Wohl auch ein Grund dafür, dass die Zahl der Flüchtlinge in Como lange überschaubar blieb.

Die Flüchtlinge kritisierten in ihrem Brief auch, dass bei diesen Rückführungen Familien und Freunde auseinandergerissen würden.

Die Schweiz hat derweil nach wie vor kein Flüchtlingsproblem: Man erwarte für 2016 einen Rückgang der Anträge auf 30 000, hieß es vor einigen Tagen vom Staatssekretariat für Migration. Nur wenige Flüchtlinge zieht es in die Schweiz, wo die Menschen zum Teil in Bunkern untergebracht werden und aussichtslose Fälle meist nach sehr kurzer Bearbeitungszeit zurückgeschickt werden.

Die Bilder von der Südgrenze haben in der Schweizer Politik jedoch großes Echo gefunden. Das Land dürfe "nicht zum Transitstaat werden", erklärte die zuständige Justizministerin Simonetta Sommaruga. Gleichzeitig zeigte sich die Sozialdemokratin erschüttert von der Situation der gestrandeten Menschen an der Grenze: "Solche Zustände darf es in Europa nicht geben." Auch viele andere Schweizer Politiker reisten in den vergangenen Wochen nach Italien, um sich selbst ein Bild von der Lage der Menschen dort zu machen. Die frühere Bundesrätin Ruth Dreifuss etwa erklärte, die Schweizer dürften die Verantwortung nicht auf Italien abschieben.

Auch in den Schweizer Medien haben die Flüchtlinge vor den Toren des Landes einige Aufregung verursacht. Jonas Projer, Moderator der Polit-Diskussionssendung "Arena", wollte seine Sendung zunächst in den Park von Como verlegen, was ihm jedoch "aus Sicherheitsgründen" verwehrt blieb. Von konservativen Journalisten und Politikern war Projer für Nähe zu den Flüchtlingen kritisiert worden, sie seien kein Faktor in der Schweizer Politik, und was sie wollten, sei ohnehin klar.

Nun wurde die Diskussionsrunde in das Tessiner Rückführungszentrum in Rancate bei Mendrisio verlegt - dort verbringen die Flüchtlinge ihre einzige Nacht in der Schweiz, bevor sie wieder ins norditalienische Como zurückgebracht werden. Die Sendung, in der Grenzwächter, Politiker und Flüchtlingshelfer diskutierten, wie mit den Migranten am besten umzugehen sei, wurde am Freitagabend ausgestrahlt.

© SZ vom 27.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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