Schweiz:Kuhglocken, Buhrufe, Pfiffe

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In zwei Gemeinden in der Westschweiz bestimmen Ängste und Ärger die Debatte über ein geplantes Wohnzentrum für Asylbewerber. Die Bewohner fühlen sich bei der Planung übergangen.

Von Charlotte Theile, Giffers

Marcel Kolly fährt an einer verwaisten Bushaltestelle vorbei. Die Straße ist leer, es regnet in Strömen. "Hast du auf null gedrückt?" kommt es von der Rückbank. Kolly nickt: "Genau an der Bushaltestelle." Zügig schiebt sich der Wagen den Hügel hinauf. "Es zieht sich schon ganz schön, nicht wahr? Wenn man das jetzt alles laufen müsste. . ." An einem schmucklosen, modernen Gebäude hält Kolly an. "1,4 Kilometer." Othmar Neuhaus, Gemeindeammann von Giffers, sitzt auf der Rückbank. Er schüttelt nachdenklich den Kopf. Ganz schön weit, da sind sich beide einig. Marcel Kolly drückt wieder auf die Null, dann gibt er Gas. Rechthalten, die Gemeinde, der er vorsteht, steht auf einem Schild, bald danach die ersten Häuser. Kolly schielt auf den Zähler. "1,3 Kilometer. Die Bevölkerung fühlt sich verunsichert und hat Angst, vor allem wegen der Größe und der Nähe des Asylzentrums."

Seit einigen Wochen ist der Gemeindevorsteher von Giffers, einem Dorf mit etwa 1500 Einwohnern in der Westschweiz, vielen Schweizern bekannt. "Wir reden hier von einem Asylanten-Tsunami", hatte Neuhaus Ende Februar in die Kameras gesagt, aufgebracht, wie eigentlich das ganze Dorf. Läutende Kuhglocken, Pfiffe, Buhrufe: Bei einer Info-Veranstaltung des Schweizer Staatssekretariats für Migration hatten die Einwohner ihrem Ärger Luft gemacht. Dass ausgerechnet in Giffers ein Bundesasylzentrum stehen soll, finden sie falsch. Dass sie davor nicht einmal angehört wurden, ungeheuerlich. Trotzdem: Von 2017 an werden wohl 300 Asylbewerber in Giffers leben, das Gebäude wurde besichtigt und vom Staatssekretariat für Migration als Zentrum vorgeschlagen.

Asylbewerber in einer anderen Gemeinde durften nicht ohne Genehmigung ins Schwimmbad

Fast überall, wo Flüchtlingsunterkünfte entstehen, gibt es Streit, Proteste, Bürgerbewegungen. Im Brennpunkt Berlin-Hellersdorf, im beschaulichen Anzing in Oberbayern, vor den Toren von Rom. Entsprechend gelassen gaben sich die Schweizer Behörden. Es sei normal, dass es erst einmal Bedenken gebe, erklärte das Staatssekretariat für Migration, das lege sich schnell wieder.

Andererseits: Die Aufregung um Asylbewerber ist in der Schweiz seit Jahren hoch. Sozialbetrüger und Gewalttäter bestimmen die Schlagzeilen des Boulevards. Ob und wie viele Asylbewerber das Land noch aufnehmen soll, wer wirklich verfolgt ist und wer so schnell wie möglich ausgewiesen werden sollte - Fragen wie diese werden kontrovers diskutiert. Volksinitiativen haben die Gesetze verschärft, die Ausweisung schneller und rücksichtsloser gemacht, ganz so, wie es die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) fordert. Und auch andere Parteien haben reagiert. Mit der Neustrukturierung des Asylbereichs sollen von der Einreise bis zum endgültigen Entscheid nur noch hundert Tage vergehen, selbst im komplizierten Dublin-Verfahren soll nach 140 Arbeitstagen die "Rückkehr in den Dublinstaat" erfolgen. Um das zu gewährleisten, setzt das Staatssekretariat für Migration auf zentrale Unterbringung. 5000 Plätze, aufgeteilt auf sechs Regionen, Verfahrenszentren, Ausreisezentren. Das Zentrum in Giffers ist nur das erste von 15 Bundesasylzentren. Die Reaktion der Gemeinde lässt nichts Gutes ahnen.

"Das größte Problem in Giffers ist, dass die Gemeinde vor vollendete Tatsachen gestellt wurde", glaubt Raymond Tellenbach, Stadtpräsident von Bremgarten, einer kleinen Stadt im Kanton Aargau. Als Bremgarten vor etwas mehr als drei Jahren von den Plänen aus Bern erfuhr, bis zu 150 Asylbewerber auf dem alten Truppenplatz vor der Stadt unterzubringen, war noch nichts beschlossen. "Wir konnten unsere eigenen Vorstellungen mit einbringen, überlegen, unter welchen Bedingungen die Unterbringung für uns in Ordnung wäre", sagt Tellenbach in seinem gemütlichen, holzverkleideten Büro im Rathaus. Das, was die Gemeinde aushandelte, war weitreichend.

"Schweiz führt Apartheid-ähnliche Beschränkungen ein" titelte der britische I ndependent im Sommer 2013. Da waren gerade die ersten Asylbewerber in Bremgarten eingetroffen. Für sie galten eine Reihe von Regeln. Schwimmbad, Schule, Sportanlagen durften sie tagsüber nicht ohne Zustimmung der Behörden betreten. Drogenhandel, Belästigung, Diebstahl - die Ängste in Bremgarten waren groß. "Mit dem Freibad war die Sorge verknüpft, dass die aus einem anderen Kulturkreis stammenden Männer mit dem Anblick von Frauen in knappen Bikinis ihre Probleme haben könnten", sagt Tellenbach. Und so wurde, mitten im August, das Freibad zu einer Art No-go-Area erklärt. "Einige Tage saß ich nur am Schreibtisch und versuchte, den Anrufern aus aller Welt das Missverständnis zu erklären", erinnert sich Tellenbach. Ein Missverständnis, davon ist er überzeugt. Schließlich durften die Asylbewerber mit Begleitung "in die Badi" - und ein Großteil der Sperrzonen, etwa die Bibliothek, war nur mit der falschen Farbe markiert worden und den Neuankömmlingen "selbstverständlich" zugänglich. Wobei es dann blieb. So frei wie die Schweizer können sich Asylbewerber in Bremgarten bis heute nicht bewegen. Die Gemeinde hat an den Verboten festgehalten.

Wer gegen ein Asylzentrum ist, werde als Rassist verunglimpft, klagt ein Gemeindevorsteher

In Giffers und Rechthalten gibt es nun ähnliche Ängste. "Meine Tochter ist 14. In den Ländern, wo die Asylbewerber herkommen, ist das doch schon eine heiratsfähige Frau." Sätze wie diese hören Marcel Kolly und Othmar Neuhaus immer wieder. Sie sind, genau wie Tellenbach, der Meinung, man müsse diese Ängste ernst nehmen, den Bürgern entgegenkommen.

Man dürfe gegen alles sein, sagt Kolly, gegen Atomkraftwerke und Windräder. Doch wenn man sich gegen ein Asylzentrum stelle, werde man als Rassist verunglimpft. Die Kuhglocken, die Buhrufe, die Pfiffe, all das sei hochgespielt worden, findet auch Neuhaus. Es gebe vernünftige Bedenken gegen das Zentrum, sagt Neuhaus. Vor allem kritisiert er, dass die betroffenen Gemeinden nicht in den Entscheidungsprozess einbezogen wurden. Die beiden Gemeindevorsteher sind sich einig: Vieles sei nicht gut bedacht worden, die weit entfernte Bushaltestelle, die Nähe zu Rechthalten. "Das kann das Dorfleben komplett verändern, wenn zu einem Fest nicht nur 200 Dorfbewohner, sondern auch 50 der 300 Asylbewerber kommen", sagt Gemeindeammann Kolly. Es gebe eine Kaserne im nahe gelegenen Freiburg, sie sei in diesem Punkt viel besser geeignet.

Beim Bundesamt für Migration sieht man dagegen Bremgarten als Vorbild für Giffers. "Auch dort gab es anfänglich Vorbehalte. Doch heute hat man sich gut arrangiert" sagt Pressesprecher Martin Reichlin. Tellenbach nickt. Ja, Bremgarten habe keine schlechten Erfahrungen mit den Asylbewerbern gemacht. Die Lokalzeitungen berichten inzwischen begeistert von gemeinsamen Schulprojekten, Theaterstücken, Kennenlern-Nachmittagen. "Wenn so etwas angemeldet ist: kein Problem", sagt Raymond Tellenbach.

Schlägereien, Vergewaltigungen, Überfälle auf das nahe gelegene Waffenlager? "Nein. All das ist zum Glück nicht passiert. Die Ladendiebstähle sind etwas gestiegen", sagt Tellenbach. Gelegentlich beschweren sich Jogger. "Wenn die Asylbewerber draußen bei ihrer Unterkunft sitzen und grillieren, fühlen sie sich gestört." Hier hört das Verständnis des Stadtpräsident aber inzwischen auf. "Manchmal muss ich einfach sagen: Stellen Sie sich nicht so an und laufen Sie weiter." Überraschenderweise funktioniere das auch ganz gut.

© SZ vom 05.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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